Die rote Halle
ihr stand diese Frau. Drahtig, dünn, eine kleine,
rechtwinklig geknickte Spraydose in der Hand, die sie hin und her schwenkte.
»Hilft prima bei Panikattacken. Passiert ja öfter mal bei
Bühnenleuten, nicht?«
Sie zwinkerte Janina zu. Wieso Panikattacken? Wer war diese Frau?
Die dunklen Locken ⦠Wo waren sie überhaupt?
Neben der Frau stand ein BVG-Angestellter in dunkelblauer Uniform,
der sie beinahe noch besorgter anblickte als ihr Sohn. Platz
der Luftbrücke las sie hinter seinem Kopf. Eine mit Edding verzierte
Bank. Das Gepäck auf dem U-Bahnsteig verteilt. Oh Gott, so viel! Wie sollten
sie das ohne Trolley nur von hier wegbringen?
»Mam? Alles okay?«
Janina nickte.
»Mir ist nur irgendwie schlecht geworden. Geht schon wieder. Und
du?«
Janina rappelte sich auf, wollte aus eigener Kraft sitzen, strich
sich die verschwitzten Haare aus der Stirn.
»Wieso ich?«, wollte Simon wissen.
»Du bist vom Sitz gerutscht.«
Simon grinste verlegen. Seine Frisur war nach der langen Reise
ebenso hinüber wie das Make-up um seine Augen. Er sah aus, als hätte er die
Nacht durchgefeiert.
»Eingepennt.«
Natürlich. Was sonst. Janina wollte aufstehen, aber die
dunkelhaarige Frau drückte sie auf die Bank zurück.
»Moment, SüÃe. Wir warten hier, ich habe schon telefoniert. Die
Bühnenjungs holen uns ab.«
Sie stützte sich mit der einen Hand auf einen eleganten Gehstock aus
dunklem Holz. Die andere streckte sie ihr mit einem schiefen Lächeln entgegen.
»Hallo erst mal. Erkennst du mich nicht?«
Janina nickte. Ja doch, sie kannte sie. Aber woher?
Die Narbe auf der Wange prägte ihre Züge, und um ihr Auge herum war
ein Netz aus feinen weiÃen Linien zu erkennen.
Wenn Janina jemandem mit einem so einprägsam entstellten Gesicht
schon einmal begegnet wäre, müsste sie sich doch daran erinnern. Aber da war
etwas in ihrem Gesicht â die schwarzen Augen, die dichten Brauen, die wilden
Locken. Der leicht arrogante Ausdruck. Dieses Gesicht war attraktiv, trotz der
Entstellungen. Die Frau drohte ihr mit dem Zeigefinger.
»Janina, du willst mich doch nicht etwa enttäuschen?!«
Und in diesem Moment fiel es ihr ein. Ihre allererste Begegnung â¦
Berlin, 1996. Ein kühler Frühlingstag.
Janina trödelt an der Spreepromenade entlang, die Hände in die
Manteltaschen gegraben und die langen, hellblau lackierten Fingernägel tief in
die Handflächen gedrückt, so nervös ist sie, weil sie ein Bewerbungsgespräch
hat, im Gorki-Theater.
Und dann diese Begegnung am Hintereingang, die Tänzerin und der
Tänzer, er wie ein Rockgott kostümiert, sie in Rokoko, beide so schön, und die
Tänzerin hält ein Messer in der Hand, lächelt.
»Versprich es.«
»Kann ich nicht.«
»Du willst mich doch nicht enttäuschen, Dave? Versprich es!«
Er lacht.
Und sie stöÃt sich das Messer durch das Kostüm hindurch in den Arm.
Blut quillt hervor.
»Versprich es!«
Er, plötzlich bleich, verspricht es.
Und sie zieht das Messer raus, wischt es seelenruhig an einem
Spitzentüchlein, das sie aus dem Ausschnitt zieht, ab.
»Ich verlasse mich drauf.«
Janina schluckte die leichte Ãbelkeit hinunter, die bei
dieser Erinnerung wieder in ihr aufwallte. Wie hatte sie dieses Gesicht
vergessen können? Wie hatte sie diese Szene vergessen können? Natürlich war es
nur ein Trickmesser gewesen, das Blut nur Theaterblut, die ganze Sache ein
SpaÃ. Aber in diesem Moment hatte sie geglaubt, was sie sah, und sich gefragt,
was der Tänzer hatte versprechen müssen. Janina war so verstört zu ihrem
Vorstellungsgespräch gegangen, dass sie sich heute noch wunderte, wie es ihr damals
gelungen war, einen Job in der Kostümabteilung zu bekommen. Sie hatte lange
nicht an diese Inszenierung gedacht. Sie dachte überhaupt nicht gern daran
zurück.
»DeeDee!«, sagte sie. »Entschuldige, die Cenerentola ist wirklich schon so unendlich lange her.«
»Sechzehn Jahre«, sagte DeeDee.
»Bist du, ich meine, hast du das neue Stück komponiert?«
DeeDee lächelte.
»Ja. Reading Red Shoes ist mein Baby. Hey,
da kommen endlich die Bühnenjungs!«
Janina kam sich schwer und langsam wie eine Schildkröte
vor, als sie hinter den vier jungen Männern in Arbeitskleidung herlief, die ihr
Gepäck schleppten. Sie war dankbar dafür, denn sie war
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