Die rote Schleife
nebeneinander.“
Niemand sagte etwas. Der zuvor neugierige Blick seines Vaters hatte sich schlagartig gewandelt. Seine Nasenflügel bebten, als er Luft holte. Aber er kam nicht mehr dazu, Maximilian anzuschnauzen.
„Jetzt starrt mich nicht so an! Das war, bevor ich mitDorothee zusammengekommen bin.“ Als sie ihn immer noch mit ihren Augen festhielten, stand Maximilian auf und ging wortlos in sein Zimmer. Wer hat denn hier das Problem?, dachte er. Sie tun gerade so, als sei ich ein Außerirdischer. Und eine Bedrohung für alle. Resigniert ließ er sich auf sein Bett fallen, zog das Kopfkissen über beide Ohren und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Er konnte es Leon nicht sagen, unmöglich. Aber misstrauisch würde sein Freund bestimmt werden. Regelmäßige Arztbesuche, Medikamenteneinnahmen und vielleicht auch häufig Krankheiten. Das würde doch auffallen.
Maximilian schlug seinen Kopf mehrmals leicht gegen die Wand, während er auf seinem Bett kniete. Die Tränen in seinen Augen verschleierten die Bilder seiner Umgebung. Irgendetwas erinnerte ihn an Dr. Schirmers Behandlungszimmer. „Blutkrebs“, flüsterte er. Und diesmal würde es wirklich die Lösung sein. Er würde in der Schule erzählen, dass er Leukämie hatte, und jeder hätte Mitleid mit ihm. Das war nicht ansteckend, niemand musste sich davor fürchten, ihn zu berühren. Kurz spürte Maximilian Erleichterung. Dann fiel ihm seine Schwester wieder ein. Konnte er ihr wirklich vertrauen? Würde sie dichthalten? Was, wenn sie sich nur aus Versehen verplappern sollte? Das Mitleid konnte dann schnell in Verachtung und Spott umschlagen. Er hörte schon, wie sie ihn auf dem Pausenhof „Schwuchtel“ nannten, während er zurückgezogen auf einer Bank saß, die Kapuze seines Pullovers tief insGesicht gezogen. Wut breitete sich in seinem Inneren aus. Wut über seine Mitschüler, die möglicherweise vollkommen unbegründet war. Wut über ein Verhalten, das er vielleicht selbst an den Tag gelegt hätte, wenn nicht er der Betroffene wäre.
Maximilian setzte sich auf die Bettkante und trocknete sich das Gesicht mit einem Zipfel seiner Bettdecke. Er brauchte doch jemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Unvorstellbar, niemals die Wahrheit ansprechen zu können. Er dachte an Dorothee. Wie würde sie diese Nachricht aufnehmen? Oh, er fürchtete sich vor ihrer Reaktion. Sie konnte toben, wenn sie sich über etwas aufregte. Und was er ihr zu sagen hatte, wäre nun wirklich ein guter Grund, um auszuticken. Hoffentlich nur hatte sie sich nicht bei ihm infiziert. Das könnte er sich unmöglich verzeihen. Obwohl er nicht alleine schuld daran war.
Er würde sie morgen anrufen. Auf einen Tag kam es auch nicht mehr an. Und Leon würde er am Wochenende einladen. Eventuell ergab sich ja eine passende Gelegenheit, bei der er ihn einweihen konnte. Auf jeden Fall würde es eine Probe für die Freundschaft werden.
4.
Dorothee merkte sofort, dass irgendetwas faul war. Maximilians Stimme war schwach und unsicher.
„Was ist los?“, fragte sie ihn.
„Warst du heute in der Schule?“
„Jetzt rede nicht um den heißen Brei herum, Max.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Warum soll ich denn nicht in der Schule gewesen sein?“ Sie atmete aus. Es rauschte kräftig in der Leitung.
„Ich bin krank“, meldete sich Maximilian knapp. „Aber auf dem Weg der Besserung, oder? Sonst wärst du doch nicht zu Hause!“
„Ich meine, wirklich krank.“ Dorothee horchte angestrengt in die Hörmuschel. Was wollte Max auspacken?
„Und? Ist es was Schlimmes?“
„Ich habe HIV, Dorothee.“ Sie sagte nichts. Der Hörer wäre ihr fast aus der Hand geglitten und auf den Boden geknallt.
„Hallo?“, fragte Maximilian, als er nichts mehr hörte. „Bist du noch dran?“
Plötzlich ertönte ein lang gezogener Schrei. Als Dorothee wieder Luft holte, hatte Maximilian aufgelegt.
Erst nach Minuten erwachte Dorothee aus ihrer Starre. Sie hämmerte gegen ihre Zimmertür. Immer wieder.
Zum Glück waren ihre Elternnicht zu Hause. Das Holz splitterte, als sie voller Zorn gegen den Rahmen trat. Der Klang von berstendem Holz ließ sie innehalten. Dieses verdammte Schwein! Tränen liefen in Rinnsalen ihre Wangen hinab. Ihre Lippen bebten. Was sollte sie jetzt nur machen? Am liebsten wäre sie sofort zu Maximilian gefahren, hätte ihm links und rechts eine gescheuert und ihn angespuckt. So ein mieser Kerl. Und dass er das auch noch am Telefon erzählte. Als wäre das alles völlig ohne
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