Die rote Schleife
Mann weg und ging weiter. Just in dem Moment hielt der Bus und sie wäre fast der Länge nach hingeflogen. Sie schaffte es gerade noch, an einer Stange Halt zu finden, ehe sie durch die aufgeklappte Tür hinaussprang.
Ihr Atem ging schnell, das Gesicht des Mannes blickte ihr aus dem Bus hinterher. Er grinste. Dorothee war froh, die Frage nicht gestellt zu haben. Was für eine blöde Idee. Fast gehetzt lief sie die Straße rauf und bog um die Ecke in ein schmales Sträßchen. Maximilian wohnte in einer Doppelhaushälfte am Ende der Gasse.
Maximilian hatte sie wohl zufällig aus dem Fenster den Weg heraufkommen sehen, denn er stand schon hinter der Tür. Ehe sie auf die Klingel drücken konnte, schwang sie wie von Geisterhand auf.
„Doro!“, sagte Maximilian erstaunt.
Dorothee blieb an der Türschwelle stehen. Noch auf dem Hinweg hatte sie sich alle möglichen Schimpftiraden zurechtgelegt.Sie hatte Maximilian an die Wand schreien, ihrer geballten Wut freien Lauf lassen wollen, um sich so von dem ersten Schock zu erlösen.
Jetzt aber, wo sie vor ihm stand und ihm in die Augen schaute, war ihr Zorn auf einen Schlag verraucht. Sie ließ die Anklage fallen, denn statt Verachtung und Wut verspürte sie nur noch Mitleid. Aufrichtiges Mitgefühl und das Verlangen nach Nähe. Gerade jetzt mussten sie doch zusammenhalten. Sie steckten beide im Schlamassel, er in diesem Moment tiefer als sie. War es also nicht Zeit, sich gegenseitig zu stützen und diesen schwierigen Weg gemeinsam zu meistern?
Fast zeitgleich bildeten sich Tränen in ihren Augen und als die ersten Tränen die Wangen erreicht hatten, trat Dorothee einen Schritt näher und umarmte Maximilian ganz fest.
Sie saßen nebeneinander auf Maximilians Bett. Noch immer hatte keiner etwas gesagt. Schließlich traute sich Dorothee. „Weißt du, wie du dich angesteckt hast?“
„Das fragt mich jeder.“ Maximilian räusperte sich. Er wusste, dass er Dorothee eine Antwort schuldig war. „Ich glaube, bei Lydia.“
„Lydia?“ Aus Dorothee war der Name fast herausgeplatzt. „Wer ist Lydia? Bist du fremdgegangen?“
„Bleib mal ganz locker. Ich kenne Lydia nicht, das ist ja das Problem. Aber deswegen glaube ich auch, dass es von ihr kommt.“ Maximilian erzählte ihr, was wahrscheinlich auf der Party bei Stefan passiert war.
„Warst du schon beim Arzt?“, fragte er dann.
„Vorhin, aber erst am Montag kriege ich meinTestergebnis. War wohl schon zu spät für Freitag. Wie geht es bei dir weiter?“
„Dr. Schirmer sagt, ich muss noch in eine Schwerpunktklinik fahren. Da gibt es HIV-Ambulanzen. Die kennen sich damit am besten aus. Wahrscheinlich aber muss ich nichts machen.“
„Wie nichts? Du hast doch Aids, daran stirbt man. Das bedeutet das Aus.“
„Noch sitze ich neben dir und mir geht’s besser als vor ein paar Tagen. Außer den lästigen Lymphknoten am Hals plagt mich gar nichts mehr.“
„Sorry, das war nicht so gemeint. Ich habe doch einfach nur Angst. Ich kann doch mit niemandem über diese Scheiße reden. Was glaubst du, werden meine Eltern sagen?“
Maximilian antwortete nicht. Bei seinen Eltern hatte er auch das Schlimmste befürchtet, aber sie hatten ziemlich cool reagiert. Warum sollten Dorothees Eltern anders reagieren? Bei ihr war ja noch nichts entschieden.
„Hast du irgendwelche Broschüren?“ Maximilian schüttelte den Kopf.
„Wozu brauchen wir Broschüren? Wir haben doch das Internet. Komm, ich fahre den Rechner hoch.“ Er nahm ihre Hand und drückte sie ganz fest. Hoffentlich nur war sie negativ.
Nach zwei Stunden des Surfens ließ sich Dorothee auf Maximilians Bett fallen. Ihre Augen brannten und waren vom Lesen am Bildschirm gerötet.
„Ich kann nicht mehr. Kopfweh“, ächzte sie.
„Ich hol dir ein GlasWasser.“ Im Nu war Maximilian zurück und stellte ein Glas auf seinen Nachttisch. Dorothee sah seine Fingerabdrücke darauf. Vor zwei Stunden hätte sie vielleicht noch ein schlechtes Gefühl gehabt, daraus zu trinken. Obwohl ihr Frau Dr. Scherlein versichert hatte, dass das Virus sich so nicht übertragen konnte. Erst durch die vielen Erfahrungsberichte, die sie im Internet gelesen hatten, gelang es ihr, diese überrationale Angst hinter sich zu lassen. Sie trank das Glas in einem Zug aus.
„Kann ich bei dir bleiben?“ Maximilian nickte. Dorothee fühlte sich erleichtert. Nein, nach Hause wollte sie jetzt nicht. Dort konnte sie mit niemandem reden. Keiner würde ihre Gefühle verstehen. Nur Max, dem es viel
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