Die russische Gräfin
Abend ging Rathbone mit einem Freund ins Theater in der Shaftersbury Avenue und danach zum Essen. Sie saßen mit einer Reihe Bekannter am Tisch und führten höchst anregende Gespräche. Das Stück war mehr als unterhaltsam gewesen, voll sprühendem Witz und Anzüglichkeiten, die Schauspieler hatten geglänzt, und das Bühnenbild und die Kostüme hatten alle beeindruckt. Auch das Dinner war vorzüglich. Rathbone hätte also den Abend in vollen Zügen genießen können, zumal seine Erhebung in den Adelsstand gefeiert wurde und er im Mittelpunkt stand. Jedermann beglückwünschte ihn, es wurde viel gelacht, und der Champagner floß in Strömen.
Um ihn herum plätscherte die Konversation dahin.
»Wunderbares Glück!« schwärmte Lady Whickham, die zu seiner Rechten saß und sich nun vorbeugte. Ihre drallen Arme schimmerten weiß im Kerzenlicht. »Und ungemein raffiniert! Ich schwöre, ich hätte nie geahnt, daß es so ausgehen würde.«
»Konstruiert, wenn Sie mich fragen«, widersprach Colonel Keogh, und wie zur Bekräftigung sträubten sich seine grauen Koteletten. »Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, würde sich so verhalten. Der Mann war eindeutig verrückt. Das konnte jeder sehen. Nur ein Dummkopf hätte ihm vertraut.«
»Aber genau das war doch der Witz, meine ich.« Mrs. Lacey sah belustigt zwischen den beiden hin und her. Sie hatte ein unauffälliges Gesicht und trug braune Kleider, die ihr nicht standen, aber Rathbone hatte sie schon immer gemocht, weil sie so offen war und nie versuchte, sich anzubiedern. Ihren Mann, ein sehr guter Anwalt am Amtsgericht, schätzte er ebenfalls.
»Äh, aber Sie müssen doch sehen…« Colonel Keogh beugte sich über den Tisch und setzte zu einem ausführlichen Vortrag über die menschliche Natur an.
Rathbone hörte nicht mehr hin. Die Handlung des Stücks war an manchen Stellen in der Tat etwas zu verwickelt gewesen und hatte zu sehr auf Zufall und hohe Gefühle gebaut. Freilich war das alles bieder, wenn man es mit der Geschichte der Gräfin Zorah Rostova verglich, die er heute nachmittag in seiner Kanzlei gehört hatte. Gewiß, die Bühnenheldin war unbeschreiblich schön und nach der neuesten Mode gekleidet gewesen. Auch hatte es beträchtliches Geschick erfordert, in diesem riesigen Reifrock über die Bühne zu schweben, ohne die Möbelstücke umzuwerfen. Aber neben Zorah verblaßte sie, wirkte sie mit ihren allzu wohlgeformten Zügen, ihrem zu offensichtlich goldenem Haar, ihrer zu sorgfältig modulierten Stimme langweilig. Ihre Rolle voll geballter Leidenschaft angelegt, dennoch strahlte sie weniger Präsenz aus als Zorah, war sie um so vieles leichter zu durchschauen. Von ihr ging kein echtes Feuer aus, keine Gefahr, die den Herzschlag beschleunigte und den Blick auf den unermeßlichen Reichtum des Lebens öffnete.
»Sehen Sie es nicht auch so, Sir Oliver?« fragte Lady Whickham.
Rathbone hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Sie haben gewiß recht«, pflichtete er ihr hastig bei.
»Na also«, wandte sie sich triumphierend an Mrs. Keogh, die genausowenig zugehört hatte. »Alles nur Klatsch und Gerüchte.«
»Ich gebe grundsätzlich nichts auf Klatsch«, stellte Colonel Keogh im Brustton der Überzeugung fest. »Schädliche Unsitte.«
»Kein Wunder, daß du so öde bist«, murmelte Mrs. Lacey. Der Colonel blitzte sie an. »Wie bitte?«
Sie sah ihm treuherzig in die Augen. »Kein Wunder, daß das gelogen ist.«
»Wieso gelogen?« Der Colonel verstand nun überhaupt nichts mehr und wurde ärgerlich.
»Haben Sie schon den neuesten Skandal gehört?« fragte Lady Whickham in die Runde. »Es wird der größte Verleumdungsprozeß des Jahrhunderts. Vorausgesetzt, es kommt zum Verfahren, was ich allerdings bezweifle, denn man wird es wohl unter den Teppich kehren. Sie wird sich bestimmt entschuldigen oder sich für verrückt erklären oder etwas Ähnliches versuchen.«
»Worüber in Gottes Namen sprichst du?« fragte Lord Whickham und blinzelte sie über sein im Kerzenlicht glitzerndes Champagnerglas hinweg besorgt an.
»Über die Gräfin Zorah Rostova natürlich. Stellt sie sich doch glatt in aller Öffentlichkeit hin und behauptet, die arme Prinzessin Gisela von Felzburg hätte den ehemaligen Kronprinzen ermordet.«
»Gott im Himmel!« Das Champagnerglas glitt Lord Whickham aus der Hand, und sein ganzer Inhalt ergoß sich über die Tischdecke. »Wie absurd! Diese Frau ist verrückt! Es wird doch sicher alles getan, um sie zum Schweigen zu
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