Die Sache mit dem Ich
nicht, er muss uns geschenkt werden. Und alle, alle, alle wollen ihn haben! Selbst Mussolini war ein Kuss-Junkie.
Die ganze Sache ist ein sozialer Akt, darum begann ich bei den Verhaltensforschern. Viele von ihnen glauben, dass Menschen schon immer küssen, seit den Hominiden vor sieben Millionen Jahren. Leider gibt es keine Fotos davon, obwohl Robert Doisneaus »Kuss vorm Pariser Rathaus« in der Urmenschen-Version reizvoll wäre. Küsst Gott? Wenn ja, wen? Wenn nein, sollten wir für ihn beten. Wir wissen es nicht, darum müssen wir uns an die Tierverwandten halten: Schimpansen und Bonobos küssen – aber ist ein Affenkuss vergleichbar mit dem, was bei uns passiert, wenn wir in einer Bar stehen und plötzlich einen Menschen sehen, den wir küssen wollen, ja: küssen müssen? Der ewige Verhaltensforschungs-Klassiker Irenäus Eibl-Eibesfeldt bremst die Romantik ein bisschen runter: Beim Küssen, meint er, handle es sich vor allem um ein Überbleibsel der Nahrungsaufnahme, die wir als Säugling gelernt haben, als wir von Mama Brei in den Mund geschoben bekommen haben. Wir essen gern, also küssen wir gern, so die ein bisschen einfache Logik. Eibl-Eibesfeldt beobachtete das bei verschiedenen Urvölkern, unter anderem den Himba in Namibia (das sind die, die sich mit einer Creme aus Butterfett und Ockerfarbe anmalen, bis sie ganz rot sind). Als ich das meiner Auftraggeberin erzählte, lachte sie: »Nichts gegen die Himba – aber wie ist dann die Magie zu erklären, die uns beim Küssen überkommt; der Zauber, das Funkeln? Brei ist nicht schlecht, aber so toll, dass ich ihm den Rest meines Lebens nachtrauern würde, nun auch wieder nicht.«
Guter Punkt, darum wechselte ich zu Sigmund Freud, dem ich optisch etwas ähnle (Bart, Pfeife, Silberblick). Auch Freud bleibt bei Mutter (wie es sein Stil ist), brachte aber zumindest etwas Sexyness ins Spiel, indem er sich die Sache so erklärte, dass wir nach dem Lusterlebnis des Nuckelns an der Mutterbrust auch als Erwachsene immer auf der Suche danach seien. Und da wir den Damen auf der Straße nicht einfach die Pullover runterreißen können, hätten wir gelernt, uns mit dem Mund zu begnügen. Nach jahrzehntelangen Kuss-Forschungen aber muss ich Freud korrigieren: Küssen ist nicht Nuckeln, Doktor! Beim Kuss zwischen Mann und Frau geht’s um Lust, Leidenschaft, Bewegung, er erregt uns. Wie Geisteskranke fallen wir übereinander her. Die Baby-Nuckelei ist dagegen ein recht passives Saugen, das irgendwann zum Einschlafen führt. Zudem zeigen Ultraschallfotos heute, dass Babys schon im Mutterleib am Daumen nuckeln und das sehr zu genießen scheinen, die Technik ist also angeboren, nicht erlernt.
Die Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld (veröffentlichte »Das Kussbuch«, unterrichtet an der Uni Bremen und hat sehr schöne lange, rote Haare, man könnte sie sofort küssen) geht etwas weiter und lenkt den Blick ihrer Forschungen auch auf das, was im Kopf geschieht, wenn wir so küssen, als gäb’s kein Übermorgen: Für sie ist die ganze Küsserei ganz klar sexuelle Kontaktaufnahme. Sie soll als Schnüffeln und Lecken am Arsch begonnen haben (als der Mensch noch krabbelte und in den Schmutz starrte) und führte später vom Mund zum Mund (als er den aufrechten Gang erfand und den Horizont erblickte). Küssen wir, setzt sich ein biochemischer Stromschlag in Gang. Das limbische System, unsere Gefühlszentrale im Gehirn, leitet Lust- und Glückszustände an die Hirndrüse Hypophyse weiter, die den Körper mit Botenstoffen überflutet. Hoden und Eierstöcke produzieren Sexualhormone, die Nebennieren pumpen Adrenalin ins Blut, der Puls geht auf 180, der Blutdruck steigt, die Körpertemperatur auch (um 0,5 Grad), die Wangen röten sich aufgrund der erhöhten Durchblutung, im Kopf werden wir ein bisschen blöde – ja, genau so ist es doch, verdammt! Fast klingt’s gefährlich, wenn’s nicht so angenehm wäre. Der Botenstoff Serotonin macht furchtlos, das Hormon Phenylethylamin versetzt uns in einen positiven Stresszustand. Endorphine kommen hinzu, Punkrock herrscht im Körper, ein gigantisches »Yeah, Baby!« durchströmt uns, das alle Krisen, Kriege, Krankheiten vergessen macht. Nicht nur das: Kurzzeitig beeinflusst das »Yeah, Baby!« sogar unsere Persönlichkeit. Mild wird wild und hart wird zart: Frauen und Männer reagieren unterschiedlich aufs Küssen, weil sie unterschiedliche Hormone absondern. Das Testosteron, das der Mann über den Speichel zur Frau bringt, erhöht
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