Die Sache mit dem Ich
haben. Es waren uns schließlich mal die allerkostbarsten Menschen.
Nicht jeder muss so systematisch und poetisch vorgehen wie die Japaner, aber auch ich schmeiße nichts mehr weg, seit ich das Prinzip kenne. Mein Museum der verlorenen Lieben ist ein alter Lederkoffer, auf den ich mit silbernem Edding »Gestern, vorgestern, früher« geschrieben habe. Drin befinden sich neben den Resten von Marie, Eva, Carolina, Jessica auch noch die von Olga, Sara und Anna, und neulich, unfassbar, fand ich sogar noch was von Sandra und Beatrice, die ich zwischen elf und dreizehn liebte. Und immer, wenn ich den Koffer öffne (oder etwas Neues hineintue), ersteht das, was längst vergangen ist, kurz neu. Der Duft von Maries Shampoo bringt den Glanz zurück, den die Sonne ihr manchmal ins Haar legte, Evas Kassette ist genau an ihrem Lieblingslied gerissen, »The Angels wanna wear my red shoes«, Annas Begründung »Mehr ist mehr« höre ich, wenn mir ihre 135 Packungen Nierentee entgegenfallen, Jessicas Joint, das Foto aus Marseille, der Schlüssel – hundert Romane, Lieder, Filme ließen sich darüber schreiben, singen, drehen! Wo sind all diese Menschen jetzt, wie geht es ihnen? Und wie funktioniert diese Energie, die uns erst zusammenbringt und dann wieder auseinanderreißt – und warum muss das so sein? Muss es denn überhaupt? Ach, viele der Souvenirs, die in den Kellern, Schränken, Schubladen der Welt versteckt liegen, könnten uns zu diesen ungeklärten Fragen eine Menge erzählen. Es sind Zeugen der Liebe, sie sollten gehört werden.
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Warum wir küssen
Es war vor ein paar Monaten, wir saßen auf meiner neuen Couch ohne Seitenlehnen.
»Warum küssen wir uns eigentlich?«, fragte sie, als wir uns küssten. Fragen wie diese liebe ich, sie verleihen einem Abend ganz neue Tiefe, viel mehr als zum Beispiel ein »Tatort«, »Titel, Thesen, Temperamente« oder die Kalendersprüche des Dalai Lama.
»In deinem Atem steckt deine Seele, und weil deine schöner ist als meine, hätte ich gern einen Teil davon, um sie irgendwann auf eBay zu verkaufen, wenn das Geld knapp wird«, probierte ich.
»Fahr’s erst mal ein bisschen runter, okay?«
»Bon«, sagte ich. »Ich mag deinen Mund, und wie er in dein Gesicht gebaut ist. Und der Rest gefällt mir eigentlich auch ganz gut.«
»Nett formuliert, aber das kann nicht alles sein«, sagte sie und rückte ein Stück ab. »Das Menschenküssen an sich – ist es nicht zu elementar, als dass es nur nach den Gesetzen der Ästhetik funktionieren kann? Ist ein Kuss bloß ein Kuss oder vielmehr, bewahrt er uns vor dem Verderben und dem Geworfensein ins alles zerfressende Nichts?«
»Ich mag deinen existenzialistischen Ansatz, aber: Je ne sais pas, mon amour.«
»Würdest du es rausfinden, für mich? Ich würde dich sehr viel küssen dafür.«
»Und bis dahin erst mal nie wieder, seh’ ich das richtig?«
»So läuft das Geschäft, ganz genau.«
Sie ist eine tolle Frau, was konnte ich anderes tun, als mich aufzumachen und ein bisschen was übers Küssen zu lernen? Ein Kuss-Detektiv zu werden sozusagen. Gibt schlimmere Jobs. Andere Typen müssen Morde aufklären und finden zerstückelte Leichen.
Die ganze Küsserei ist tatsächlich eines der großen Mysterien der Menschheitsgeschichte. Was die schon alles hervorgebracht hat! Die besten Lieder (»Then I kissed her« von den Beach Boys, »Kiss on my list« von Hall & Oates, »Kiss and Make Up« von Saint Etienne, die Gruppe Kiss), Top-Filme und Theaterstücke (»Romeo und Julia« und eigentlich auch alles andere von Shakespeare, Billy Wilders »Küss mich, Dummkopf«, Louis Malles »Die Liebenden« etc.), eine ganz gute Skulptur (Rodins »Kuss« ist auf jeden Fall besser als »Der Denker«) und noch 2728292229 andere Dinge, die mir jetzt nicht einfallen, weil mein Kopf zu klein ist. Klar ist: Ein Kuss kann alles ändern – er macht Feinde zu Freunden und Fremde zu Liebenden, er schafft Nähe, Wärme, Glück. Küssen sich zwei, bleibt etwas haften. Ihr Verhältnis spaltet sich in die Zeiten Vor dem Kuss/Nach dem Kuss. Küsse machen Umstehende neidisch, sorgen für Autounfälle, sie erschaffen Paare oder sprengen sie und lassen Gefühle entstehen, wo eben bloß Vakuum war. Im Grunde genommen handelt es sich beim Kuss um eine Gesellschaftsbombe von gigantischen Ausmaßen; irre, dass er überhaupt legal ist. Huren tun für Geld vieles, nur den Kuss verweigern sie, er ist ihnen zu intim. Alles, scheint es, können wir kaufen, nur den Kuss
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