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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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hinderten ihn daran. Der Zwischenfall war nicht weiter bemerkenswert – nur fiel den Leuten auf, dass der Gefangene normannisches Französisch gesprochen hatte, die Sprache der Herren. So war er wohl ein Spross aus hohem Hause? Oder bloß ein Ausländer, der von weither kam? Niemand wusste es.
    Der Ochsenkarren zockelte bis zum Galgen und hielt dort an. Mit der Schlinge in der Hand stieg der Büttel des Vogts auf die Ladefläche. Der Gefangene wehrte sich. Die Gassenjungen jubelten; sie wären enttäuscht gewesen, hätte der Mann alles widerstandslos über sich ergehen lassen. Der Gefangene, durch Fesseln an seinen Hand- und Fußgelenken in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, verstand es dennoch, durch heftige Kopfstöße nach links und rechts der Schlinge zu entgehen. Da trat der Büttel, ein hünenhafter Mann, ein paar Schritte zurück, holte aus und versetzte ihm einen kräftigen Hieb in die Magengrube. Der Fremde krümmte sich; schon war der Büttel zur Stelle, warf ihm die Schlinge über den Kopf und zog den Knoten fest. Dann sprang er vom Karren herab, zog das Seil stramm und befestigte das andere Ende an einem Haken am Grunde des Galgens.
    Das war der Wendepunkt. Wenn der Gefangene jetzt noch zappelte, schnürte es ihm um so schneller die Luft ab.
    Die Bewaffneten nahmen ihm die Fußfesseln ab und ließen ihn dann allein auf dem Karren stehen, die Hände auf dem Rücken gebunden. Die Menge war auf einmal totenstill.
    An dieser Stelle kam es bei Hinrichtungen gelegentlich zu Zwischenfällen: Die Mutter des Verurteilten bekam einen Schreikrampf, oder sein Eheweib sprang in einem letzten verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten, mit gezücktem Messer aufs Schafott. Manchmal flehte der Verurteilte Gott um Vergebung an, in anderen Fällen brach er in wüste Verwünschungen gegen seine Henker aus. Die Bewaffneten nahmen, auf alles gefasst, zu beiden Seiten des Schafotts Aufstellung.
    Da fing der Verurteilte auf einmal zu singen an.
    Er hatte eine hohe, ganz reine Tenorstimme. Er sang auf französisch, doch selbst jene, denen diese Sprache fremd war, hörten der wehmütigen Weise an, dass sie von Trauer und Abschied sprach.
    Ein Lerchenvogel tat sich einst
im Jägernetz verfangen.
Und singt so süß und singt so rein,
als ob der Stimme Zauberklang –
ihn wieder könnt’ befrein.
    Sein Blick ruhte dabei unentwegt auf einer Person inmitten der Menge. Die Leute wichen zurück, sodass sie alsbald für jedermann zu erkennen war.
    Es war ein Mädchen, kaum mehr als fünfzehn Jahre alt. Die Menschen auf dem Marktplatz fragten sich, warum sie ihnen nicht schon früher aufgefallen war. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, das ihr in üppiger Fülle über die Schultern wallte und oberhalb der breiten Stirn einen Wirbel bildete, den man im Volksmund »Teufelsmütze« hieß. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, die Lippen voll. Die alten Frauen schlossen aus der fülligen Mitte und den schweren Brüsten sofort, dass das Mädchen schwanger und der Verurteilte der Vater ihres ungeborenen Kindes war. Allen anderen jedoch fielen nur ihre Augen auf: Sie passten nicht recht zu dem sonst durchaus hübschen Gesicht. Sie lagen tief in ihren Höhlen und waren von außergewöhnlichem, goldenem Glanz. Wer sie ansah, wandte alsbald den Blick wieder ab, denn diese Augen schienen jedermann tief ins Herz zu schauen und auch die geheimsten Geheimnisse zu entdecken. Das Mädchen war in Lumpen gehüllt, und Tränen liefen ihre weichen Wangen herab.
    Der Ochsentreiber blickte den Büttel erwartungsvoll an. Der Büttel sah den Vogt an und harrte des vereinbarten Kopfnickens. Der unheimliche junge Priester stieß den Vogt voller Ungeduld verstohlen in die Seite, doch der Vogt schenkte ihm keine Beachtung. Er ließ den Dieb weitersingen, und so gelang es dem hässlichen Mann mit seiner schönen Stimme, sich den Tod noch wenige furchtbare Augenblicke lang vom Leibe zu halten.
    Es graut der Tag, der Jäger kommt,
um ihm den Tod zu geben.
Es stirbt der Vogel, stirbt der Mensch –
mein Lied wird ewig leben.
    Als das Lied zu Ende war, sah der Vogt den Büttel an und nickte. Der Büttel rief: »Hopp!«, und hieb dem Ochsen mit einem Seil in die Flanke, während der Ochsentreiber seine Peitsche knallen ließ. Der Ochse zog an, der Mann taumelte, der Wagen glitt ihm unter den Füßen weg, und er fiel ins Bodenlose. Der Henkerstrick spannte sich, und dann brach das Genick des Diebes mit hörbarem Knacken.
    Ein Schrei ertönte, und alle

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