Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
leben.
Er schickte mir ein Fax mit dieser Erklärung, auf die er handschriftlich ergänzt hatte: »Nun haben Sie ja erreicht, was Sie wollten. Sie haben Lisa ihren Vater genommen. Wie Sie damit leben können, ist mir ein Rätsel! Schämen Sie sich!«
Ich war wütend und auch irgendwie traurig. Ich hätte mir einen harmonischeren Ausgang dieses Falles sehr gewünscht.
Aber was zählte, war die Tatsache, dass Lisa nun tatsächlich bei Familie Roth bleiben durfte.
Ich habe sie noch einmal dort besucht, um mich zu verabschieden. Und um ihr zu sagen, dass ich beeindruckt war von ihrem Mut und ihrer Zielstrebigkeit.
»Danke!« Lisa strahlte.
»Und danke auch für den Tipp!« Sie grinste verschwörerisch.
»Welchen Tipp denn?«
»Na, Sie haben doch gesagt, mein Vater muss wissen, was in mir vorgeht.«
»Ja, schon, aber …«
»Und nachdem ich den Brief geschrieben und ihn noch mal durchgelesen hatte, war mir klar, dass er wahrscheinlich auch den nicht kapieren würde. Und dann dachte ich mir, dass er vielleicht verstehen würde, dass es mir ernst ist, wenn ich einfach was mache. Erst hab ich überlegt, ob ich anfange, die Schule zu schwänzen und so was. Aber dann hatte ich Angst, er bestraft mich dann nur und nimmt mir womöglich Josef weg. Und da hab ich gemerkt, dass ich doch einfach mit Josef zusammen weglaufen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass er da gleich sagt, ich kann bei Frau Roth bleiben. Aber ich hab mir gedacht, dass ich den Josef dann dort lassen kann, damit er sicher ist. Und dass ich dann eben einfach immer wieder weglaufe. So lange, bis er es kapiert und mich in Ruhe lässt. Gut, gell?«
Lisa strahlte. Diesen Anblick werde ich niemals vergessen. Sie war zu Recht stolz auf sich. Und man sah ihr an, welche Kraft sie gewonnen hatte durch die Erkenntnis, dass sie die Macht hatte, etwas zu tun. Ihr Leben in die Hand zu nehmen.
Ich bin sehr dankbar, dass ich diesen Moment erleben durfte.
Und ich freue mich darüber, dass ich durch Frau Ehring, die weiterhin Kontakt zur Familie Roth hielt, weiß, wie Lisas Leben weiter verlief.
Lisa ging noch einige Zeit zu einer Therapeutin, um das Erlebte aufzuarbeiten. Daneben hielt sie guten Kontakt zu ihrer Schwester, konnte noch viele Jahre ihren treuen Gefährten Josef knuddeln und beschloss, nach dem Abitur Psychologie zu studieren. Der Kontakt zu ihrem Vater brach zunächst vollständig ab. Sie nahm ihn aber während ihres Studiums wieder auf und hält ihn bis heute.
Gib Kuss!
Mein nächster Gutachtenauftrag betraf eine russische Familie. Wie ich schon aus der Akte entnehmen konnte, würde zumindest die Mutter des Kindes, um das es ging, einen Dolmetscher benötigen. Das macht die Begutachtung immer etwas schwieriger, zumindest für mich. Ich finde es unangenehm, dass ich dann vollkommen auf die korrekte Übersetzung des Dolmetschers angewiesen bin. Wenn dieser Zwischenschritt nicht funktioniert, dann kann das zu Missverständnissen führen, die bestenfalls lästig sind. Im schlimmsten Fall muss ich dann mehrere zusätzliche Gespräche führen, bis das Ganze endlich stimmig wird.
Ich habe mit Dolmetschern schon seltsame Dinge erlebt. Es handelte sich dabei immer um vereidigte Dolmetscher, die nicht zum ersten Mal für das Gericht arbeiten. Deshalb ging ich zu Beginn meiner Gutachtertätigkeit in meiner damaligen Naivität davon aus, dass diese dann ja wohl auch gut sein müssten. Weit gefehlt. Die Unterschiede zwischen Dolmetschern könnten größer kaum sein. Ich habe überaus fähige und korrekt arbeitende Übersetzer erlebt, aber teilweise auch wirklich unfassbar unprofessionelles Verhalten.
Meine Erklärung zu Beginn eines Gespräches mit Dolmetscher war immer in etwa gleich: »Bitte stoppen Sie sowohl mich als auch meinen Gesprächspartner, falls wir zu lange ohne Pause reden. Bitte übersetzen Sie unbedingt, soweit es irgend möglich ist, wortwörtlich. Fügen Sie auf keinen Fall etwas dazu und lassen Sie auch nichts weg. Wenn mein Gesprächspartner etwas nicht verstanden hat, lassen Sie mich das erklären und übersetzen Sie es bitte anschließend.« Obwohl ich das immer vorab erklärte, musste ich viele Dolmetscher im Laufe des Gespräches wiederholt darauf hinweisen. Und trotzdem passierte es dann, dass mein Gesprächspartner so lange redete, dass ich mir sicher war, dass auch ein möglicherweise hochbegabter Dolmetscher all das nicht mehr Wort für Wort übersetzen konnte. Meist bekam ich dann von Seiten des Dolmetschers lediglich
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