König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
I.
Mein Zimmer besteht aus beinahe gar nichts. Wozu viel Aufhebens um eine Wohnung machen, in der ich ohnehin nur so vor mich hindämmern werde, in den Gedanken anderer. Wer, wie Professor Icks gemeint hat, auserwählt ist, am Institut für Gedankenkunde und Verstehen in die Lehre zu gehen, wer spazieren darf in den bunten und schillernden Himmelreichen aus Papier, der braucht ja nicht viel. Der nährt sich vom Geist und nicht von den Bildern an der Wand. Ein einziges Gedicht habe ich allerdings doch aufgehängt, ein Geschenk meiner Schwester, die es eigenhändig für mich aus einem meiner Lieblingsbücher auf sehr feinen, an den Rändern ausfransenden Ton gebrannt hat. Es fragt darin ein Ich eine Lampe, ob sie noch da sei. Sonst ist hier nur ein Tisch in der Mitte, ein Sofa in der Ecke, eine Bank vorm Fenster, einige Stapel unbeschriebener weißer Blätter und ein paar Kartons mit alten Briefen und Tagebüchern, von denen ich mich so wenig trennen kann wie von den aufgeschlagenen Büchern, die hier herum liegen. Einmal werde ich in der Nacht aufstehen, einen der Kartons öffnen, ein Tagebuch aufschlagen, einen Brief an die Straße darin finden und das schon leicht verblichene Papier gegen das Licht halten. Und dann? Vielleicht wird irgendetwas mit meinem Atem geschehen, er könnte sich einen schmalen Schacht durch meinen Körper bis in die Zehen graben und mich fast so erhellen wie das Papier, das ich in den Händen halte. Ob Professor Icks eine solche Handlung für fähig hält, sich in einem Gedanken zu verlieren, der durch die halbe Stadt schwebt? Geradezu in ein fremdes Zimmer hinein, um dort über ein halb geschlossenes Lid zu streifen und ums Auge herum zu kreisen? Aber, was frage ich mich das, ich bin ja hier nicht aufgetaucht, um in Erfahrung zu bringen, ob Professor Icks darauf vertraut, dass eine leichte, nahezu schlafwandlerische Berührung sich überträgt. Es wird sich weisen, weshalb ich nun einmal hier eingeschrieben bin, und wenn es mir am Ende gelänge, einen Reflex vom Blatt, verschwommenes, mildes Licht in ein Haus zu schicken, das ich mehr als Erinnerung an mich selbst, als Geist, denn als leibhaftiger Mensch verlassen hatte, soll es mich nicht weiter wundern. Was kümmert’s mich, es wird nicht noch einmal geschehen. Lampe, bist du noch da? Und hebst mit deinem Licht wieder und wieder den ersten wirklich wichtigen Satz hervor:
Ich bin aufgenommen , ja, aufgenommen.
Niemand, kein Wächter, kein Portier, darf mich mit einer lästigen Frage aufhalten, und keiner der im Hof aufgereihten Steinköpfe wird den Mund öffnen, um mich zurückzuschicken. Wir hier, wir Aufgenommenen, Flora, Justin und ich zum Beispiel, werden retten, was in den Hörsälen vom Geist übrig blieb, und später, vielleicht in zweihundert Jahren, wird mein Kopf neben einigen anderen Köpfen stehen, und der berühmteste Moderator der Stadt würde vor einer beträchtlichen Anzahl Reisender verzückt ausrufen: »Dieser Charakterkopf! Diese Locken! Dieses poetische Gesichtchen! War es nicht von jeher bestimmt, hier zu stehen und die Blätter im Hof zu betrachten?! Sieht man ihm nicht an der Lippe an, dass es gewiss mit dem ersten Schrei, den es nach seiner Geburt ausgestoßen hat, eine würdige Nachfahrin jener Blätterschauer ist, die dieser Stadt und diesem Land zu ihrer so außerordentlichen Bedeutung in der ganzen Welt verholfen haben? Scheuen Sie sich nicht, Ihre Hände auf ihr Haupt zu legen und mit Ihren Fingern über Augen, Wangen und Lippen zu fahren!« Einer der Reisenden entfernt sich dann ein paar Schritte und wenn er bei der großen Linde in der Mitte des Hofs ankommt, lehnt er sich an den Stamm und kneift seine Augen zusammen. Das soll Lina Lorbeer gewesen sein? Diese unscheinbaren Wangen, dieser unscheinbare Mund, diese unscheinbaren Lider –? O ja, willkommene Reisende und deren Gefährten, das wird Lina Lorbeer gewesen sein. Hoffentlich! Hören Sie selber, wie Professor Icks es bestätigt, während er aus einer der Türen des Korridors tritt und seinen Blick an mir vorbei in der Ferne sich verlieren lässt: »Lina Lorbeer! Willkommen. Willkommen an dem Ort, an dem Sie lernen werden, ein nachdenkender Mensch zu sein, nicht nur dazu auserwählt, seine Gedanken zu Papier zu bringen und andern zur Prüfung vorzulegen, sondern auch einzutreten in die bunten und trüben, sehr, sehr trüben Gedankenreiche anderer. Sie werden verstehen lernen, verstehen Sie, verstehen, und keine Sekunde Ihres Lebens wird Ihnen zu
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