Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
Vorwarnung
Kürzlich war ich auf dem Weg zu einem Gesprächstermin. Ich sollte einen Vater treffen, der einen nicht ganz normalen Beruf ausübt: Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Kleinkrimineller. Zu unserem ersten Gesprächstermin tauchte er nicht auf, was nicht ungewöhnlich ist. Hinterher werden mir dann oft die wildesten Ausreden aufgetischt. Dieser Vater aber war tatsächlich verhindert. Er hatte sich in der Nacht ein paar Schnäpse zu viel genehmigt, war dann auf der Straße neben seinem Bollerwagen voller Diebesgut eingeschlafen und wurde so von der Polizei aufgefunden.
Eine kuriose Geschichte? Auf jeden Fall! Trotzdem ist der Job einer Gerichtsgutachterin in Familien- und Sorgerechtsangelegenheiten zunächst einmal alles andere als lustig. Schließlich werde ich immer erst dann mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, wenn sich getrennt lebende Eltern darüber streiten, bei wem ihr Kind in Zukunft wohnen soll, oder wenn es Hinweise darauf gibt, dass das Wohl eines Kindes in seiner Familie gefährdet ist. Nicht lustig.
Manche Fälle beinhalten aber bei aller Ernsthaftigkeit, die selbstverständlich immer die Grundlage meiner Arbeit darstellt, eine unfreiwillige Komik, der ich mich oft nicht entziehen kann.
Genau genommen habe ich im Laufe der Jahre einen speziellen Blick für solche skurrilen Situationen entwickelt. Damit bin ich nicht allein. Das ist eine bekannte Reaktion, die sich bei vielen Berufsgruppen einstellt, um die Belastungen des Jobs besser aushalten zu können.
Einmal konnten wir bei unserem Psychologen-Stammtisch kaum das eigene Wort verstehen, weil die zwölf Menschen am Nebentisch so unfassbar oft und laut gelacht haben. Es handelte sich um einen Ärzte-Stammtisch. Ich weiß aber auch von Fließbandarbeitern, denen stillschweigend erlaubt wird, eine kleine, harmlose Portion Wahnsinn auszuleben, um der Monotonie zu entfliehen: Das können kleine Streiche sein, die sich die Kollegen untereinander spielen, oder Übersprunghandlungen, bei denen alle Toilettentüren herausgeschraubt werden, bis hin zu einer improvisierten Strandbar aus Bastmatten zwischen zwei großen Maschinen mitten in der Werkshalle.
Der Mensch versucht offenbar, Stress so gut es geht zu verarbeiten oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Bei mir funktioniert das meist, indem ich innerlich einen Schritt zurücktrete, um Distanz zur jeweiligen Situation zu gewinnen. Und meist wird mir dann bewusst, wie komisch oder skurril das Geschehen gerade ist.
Es gibt natürlich auch andere Wege, mit emotional belastenden Arbeitsbedingungen umzugehen. Neben einer guten Ausbildung und sogenannten Supervisionsgruppen, in denen man sich mit Kollegen austauschen kann, gibt es auch individuelle Mechanismen, die helfen, mit den Belastungen fertig zu werden.
Manche meiner Kollegen gehen regelmäßig joggen, andere machen am Feierabend etwas Kreatives wie Malen oder Musizieren, wieder andere gehen gerne Holz hacken und schreien dabei. Gerade Letzteres erschien mir immer wieder als eine sinnstiftende Alternative, und ich tat es nur deswegen nicht, weil ich bei der Handhabung von gefährlichen Werkzeugen wie einer Axt generell eher zur Ungeschicklichkeit neige. Die Vorstellung, im Wald herumzuhumpeln, um meinen abgetrennten Fuß zu suchen, entspricht nicht meiner Vorstellung von Stressreduktion.
Da ist mir die Fähigkeit, die Dinge durch die Brille der Skurrilität zu sehen, deutlich lieber – und das ist auch weniger schmerzhaft.
Aber damit Sie nachher nicht sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt, tue ich jetzt genau das: Achtung, Achtung! Dieses Buch ist eine emotionale Achterbahnfahrt! Einige Fälle, die ich in diesem Buch schildere, sind schockierend und stellenweise traurig – manchmal ist Humor einfach nicht angebracht. Andere werden Sie, liebe Leser, vielleicht wütend machen oder Sie dazu veranlassen, eine Axt zu kaufen, um damit in den Wald zu gehen. Tun Sie das nicht, bevor Sie weitergelesen haben, denn daneben werde ich Ihnen eben auch Geschichten erzählen, die rührend sind und zeigen, dass Menschen zum Wohl ihrer Kinder Großartiges leisten können. Und Geschichten, die Sie bei aller Dramatik zum Lachen bringen werden.
Aber was hat mich letztlich dazu veranlasst, ein Buch über meine Arbeit zu schreiben?
Mein Vater schrieb schon immer wie ein Besessener: Tagebücher, Geschichten für uns Kinder, Reiseberichte, Gedichte, Fachbücher und vieles mehr. Als ich noch ein Kind war, sah das für mich
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