Die Schattenträumerin
Lieblingsspeisen.« Isabella verzog das Gesicht. »Du weißt, was das bedeutet?«
Francesca nickte. »Taubensuppe mit Brotkruste, weiße Krakeneier und in der eigenen Tinte gekochte Tintenfische.«
»Wir sollten uns auf dem Weg ins Restaurant noch eine Kleinigkeit zu essen kaufen, meinst du nicht?«
Francesca zuckte mit den Schultern. »Ich habe sowieso keinen großen Hunger.«
»Du trägst Fiorellas Tod mit ungewöhnlicher Stärke«, stellte Isabella mit ernster Miene fest. »Nicht einmal bei der Beerdigung hast du geweint.«
»Mir war nicht danach«, antwortete sie, etwas patziger als beabsichtigt.
»Manchmal weigert sich das Herz, einen Schmerz zuzulassen«, fuhr Isabella fort, ihre Worte vorsichtig abwägend. »Weil er einem zu qualvoll erscheint, zu groß für das eigenekleine Herz. Doch nur wenn man die Trauer zulässt, können die Wunden auf Dauer verheilen.«
Francesca starrte auf ihre Hände, die sich an der Reling wie an einem Rettungsring festklammerten. Ihre Finger waren schon rot vom kalten Fahrtwind.
»Ich glaube, ich habe Angst«, gestand sie schließlich mit einiger Überwindung. »Wenn ich anfange, zu weinen, werde ich vielleicht niemals wieder aufhören können.«
Ihre Mutter legte die Arme um sie und drückte sie an sich. »Die Tränen löschen den Schmerz«, flüsterte sie in ihre Haare. »Fiorella wird dich dein ganzes Leben begleiten, genau wie mich. Wenn du die Erinnerung an sie in deinem Herzen behältst, wird sie nie wirklich fort sein.«
»Ich werde sie nie vergessen«, versprach Francesca mit erstickter Stimme.
Isabella nahm ihr Gesicht in beide Hände und lächelte ihr aufmunternd zu. »Und wenn sie mit ihrer Vision recht hatte und du irgendwann deinen Kindern eine ihrer vielen Geschichten erzählst, dann wird sie auch in ihnen weiterleben.«
Gegen ihren Willen musste auch Francesca lächeln. Die Vorstellung, dass sie Kinder haben sollte, war einfach zu absurd. Doch es gab noch einen anderen Grund, warum sie sich besser fühlte: Es tat gut, mit ihrer Mutter über Fiorella zu sprechen.
Isabella strich ihr die zerzausten Haare glatt.
»Habe ich dir schon einmal erzählt, dass sie mir eine ihrer Geschichten geschenkt hat?«
Francesca schüttelte den Kopf.
»Es ist meine Lieblingsgeschichte. Als ich ein Kind war, musste Fiorella sie mir immer wieder erzählen und jedes Mal hatte ich am Ende Tränen in den Augen. Deswegen hat sie mir die Geschichte geschenkt und versprochen, dass sie sie nie jemand anderem außer mir erzählen wird.« Sie warf Francesca einen unsicheren Seitenblick zu. »Hat sie dir ihre Geschichte von der Entstehung Venedigs erzählt?«
»Nein.«
»Dann hat sie ihr Versprechen also gehalten.« Isabella lächelte. »Möchtest du die Geschichte hören? Leider werde ich sie nicht ganz so gut erzählen können wie Fiorella, aber sie wird dir sicherlich gefallen.«
Francesca nickte, lehnte sich an die Schulter ihrer Mutter und blickte über die tanzenden Wellen auf die näher kommende Stadt.
»Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die den Namen Venetia trug«, begann Isabella zu erzählen. »Die Prinzessin war wahrhaft einzigartig, denn dank des Zaubers einer Fee war es ihr vergönnt, immer glücklich zu sein. Schon am frühen Morgen erfüllte ihr Lachen den Palast, selbst in der Stadt war es zu hören und stimmte alle Bewohner froh. Eines Tages kam ein schöner Königssohn in das Land, der sich sofort, als er Venetia erblickte, in sie verliebte. Er war so stattlich und edelmütig, dass auch Venetia ihm augenblicklich ihr Herz schenkte. Doch ihr Vater war eifersüchtig und nicht bereit, seine geliebte Tochter gehen zu lassen. Er verlangte von dem Königssohn, dass er in den Krieg zog, um sich die Hand seiner Tochter zu verdienen. So mussten sich die Liebenden trennen. Aber Venetia versprachihrem Prinzen, so lange am Fenster des höchsten Turms zu warten, bis er wieder zurückkäme. Wenn ihm jedoch etwas zustieße, so schwor sie, dann würde sie nie mehr glücklich sein. So zog der Prinz für ihre gemeinsame Liebe in den Krieg und mit bangem Herzen wartete die Prinzessin auf seine Rückkehr. Die Wochen vergingen und Venetia sorgte sich immer mehr. Als ein Bote, selbst schwer verwundet und halb verhungert, vom Schlachtfeld zurückkehrte, wurde Venetias schlimmste Angst bestätigt: Ihr geliebter Prinz war gefallen und würde nie mehr zurückkehren. Doch Venetia weigerte sich, das Turmfenster zu verlassen. Sie starrte in die Ferne, als könne die Nachricht
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