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Die Schattenträumerin

Die Schattenträumerin

Titel: Die Schattenträumerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Wilk
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wahr – unserer vorgeschriebenen Bestimmung.«
    Geheimer Auszug aus »Grimoire* der Untoten«,
Neuauflage von 2010
    D er Zug hatte die grauen Vororte Londons längst hinter sich gelassen und ratterte unermüdlich weiter nach Norden, fraß sich wie ein hungriges Tier mit lautem Getöse durch die Landschaft. Die dunklen Wolken verschluckten das Licht des Tages und ein wütender Wind peitschte den Regen mal nach links, mal nach rechts, als ob er mit seinen eisigen Böen jeden Schlupfwinkel unter Wasser setzen wollte.
    Lilith fröstelte und schlang ihre Jacke um sich.
    »Ist kalt geworden, nicht?«, fragte die alte Dame, die mit Lilith im Abteil saß.
    Ihre Stimme klang brüchig. Die Frau war sicherlich schon über siebzig, doch sanfte Augen strahlten aus dem mit Falten eingerahmten Gesicht.
    Sie blickte schaudernd aus dem Fenster. »Als ob der Herrgott die Welt unter Wasser setzen wollte!«
    Lilith nickte. »Ja, ein scheußliches Wetter!«
    Die Frau musterte sie neugierig. »Bist du alleine unterwegs?«
    »Mein Vater hat mich in London zum Bahnhof gebracht. Ich besuche meine Tante in Bonesdale.«
    Leider war das nur die halbe Wahrheit. Lilith konnte sich einen tiefen Seufzer nicht verkneifen. Eigentlich hatte ihr Vater sie in aller Eile vor dem Bahnhof abgesetzt, da er noch zahlreiche Reisevorbereitungen für seinen Auslandsaufenthalt treffen musste. Joseph Parker war ein angesehener Archäologe und Historiker. Er hatte vor einigen Tagen überraschend die Genehmigung für die Mithilfe bei den Restaurierungsarbeiten der Tempelanlage Bagans erhalten. Schon seit Jahren hatte Joseph Parker im Namen des archäologischen Instituts um diese Möglichkeit gebeten, doch das burmesische Militärregime hatte kein Interesse daran, ausländische Wissenschaftler in ihrem Land rumschnüffeln zu lassen, und verweigerte jedem archäologischen Team den Zutritt. Es schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Umso überraschender war es nun, dass Joseph Parker plötzlich als fachkundiger Berater angefordert worden war. Liliths Vater würde für Monate, wenn nicht gar für Jahre im Ausland sein. Sein Lebenstraum schien in greifbarer Nähe. Dabei hatte er nur noch ein Problem: seine Tochter Lilith. Was sollte mit ihr geschehen? Wer sollte sich um sie kümmern? Außer ihrem Vater und Tante Mildred hatte Lilith keine Verwandten.
    Sie bettelte und flehte, in London bei ihrer besten Freundin Thea wohnen zu dürfen, aber ihr Vater, der ihr ansonsten keinen Wunsch abschlagen konnte, blieb dieses Mal hart. Für ihn schien die Sache eindeutig: Entweder er konnte Lilith bei ihrer einzigen lebenden Verwandten unterbringen, oder er musste seine Burmareise absagen. Wenigstens fürs Erste, so tröstete er Lilith, sollte sie bei ihrer Tante unterkommen, mit etwas Zeit und Geduld konnte man sich vielleicht nach einem passenden Internat umsehen.
    Dabei hatte Lilith ihre Tante noch nie zu Gesicht bekommen. Ihr Vater und Tante Mildred mussten sich aus irgendeinem Grund zerstritten haben, was Lilith sehr ungewöhnlich fand. Sicher, ihr Vater war das typische Exemplar eines zerstreuten Wissenschaftlers und konnte manchmal etwas unsensibel sein, aber im Grunde war er ein herzensguter Mensch. Deswegen überraschte Lilith die Kälte in seiner Stimme, als er mit Tante Mildred vor einigen Tagen telefoniert hatte, um mit ihr Liliths Kommen abzusprechen. Warum verhielt sich ihr Vater nur so abweisend seiner Schwester gegenüber? Für Lilith gab es nur eine logische Schlussfolgerung: Ihre Tante musste eine durch und durch unsympathische Person sein. Und nun sollte Lilith auch noch bei ihr leben! Sie sank tiefer in sich zusammen.
    »Ich hoffe, du bist nicht mehr allzu lange unterwegs zu diesem, wie hieß es noch? Bonesdale?« Die Frau betrachtete Lilith besorgt. »In deinem Alter sollte man nicht alleine reisen müssen. Du bist doch wahrscheinlich erst …«
    »Dreizehn«, half ihr Lilith. »Eigentlich noch zwölf, aber in ein paar Wochen habe ich Geburtstag.«
    »In deinem Alter konnte ich es auch kaum erwarten, älter zu werden.« Die alte Frau lachte auf. »Und heute muss ich manchmal nachrechnen, weil ich tatsächlich vergessen habe, wie alt ich bin.«
    Der Zug begann sein Tempo zu drosseln. Die Frau sah erfreut auf. »Ah, endlich sind wir in Larkhall. Jetzt muss ich raus.«
    Sie erhob sich schwerfällig und wollte sich strecken, um ihren Koffer aus der Ablage zu ziehen, als der Zug einige Male unsanft hin- und herruckelte. Die alte Dame drohte das Gleichgewicht zu

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