Die schlafende Stadt
aufgemacht, um dem Gedenken des Seins beizuwohnen. Nur die zahlreichen streunenden Katzen, die fast allgegenwärtig auf den Mauern hockten und auf den Dächern herumschlichen, würden draußen bleiben. Viele der feierlich Gekleideten hatte Darius schon oft gesehen, wenn er sie auch zumeist nicht näher kannte. Und doch waren immer Gesichter dabei, von denen er meinte, sie noch nie zuvor gesehen zu haben.
Wie bei meinen Sternen, dachte er. Die Dinge kommen, die Dinge gehen. Und manchmal bleibt etwas zurück ... und oft nicht. Aber warum nicht?
Darius glaubte, sich zu erinnern, dass es einmal anders gewesen war. Die ewige Dumpfheit, die sich seines Geistes bemächtigt hatte, war langsam gekommen, schleichend und unmerklich, und fast heimlich war er somit in den immer wiederkehrenden Ablauf der Dinge hineingeglitten, als wäre es immer so gewesen. Darius machte gewissenhaft seine Arbeit, so gut es eben ging. Er traf sich abends mit Freunden, saß manchmal allein über seinen Büchern und Briefen. Nie stellte er kritische Fragen. Zuweilen spazierte er, ungewöhnlich genug für viele, alleine durch die Straßen. Und zu Vollmond ging er in den Tempel.
Sein Blick ging in die Ferne. Das Meer war heute weit bis an den Horizont hinaus zu sehen, voller schimmernder Wellen, von unergründlicher Tiefe. Von dort, von weit hinter dem Horizont kamen sie immer, die Boote mit den Neuankömmlingen. Es waren fast immer kleine Nachen, die ein einziger Fährmann ruderte und lenkte, die nach langer, stiller Reise die Hafeneinfahrt passierten. Eine unwirkliche Erinnerung blitzte in ihm auf, von der er nicht wusste, ob dies tatsächlich passiert war oder seine Phantasie sie nachträglich erschaffen hatte. Unendlich lange war es schon her, dass er selbst an den von schwarzem Moos bewachsenen Kaimauern angelegt hatte, ohne Erinnerung, ohne Identität. Die ernsten Beamten in der Meldebehörde, die über sein Kommen bereits informiert gewesen sein mussten. Die Zuweisung seiner Bleibe, die Verteilung der Aufgaben ... und die leise Freude, wissenschaftlich arbeiten zu dürfen, einen Inhalt gefunden zu haben . Wer bin ich? hatte eine schwache, leise Stimme in ihm manchmal zu fragen gewagt, doch die Ahnung des Furchtbaren hatte sie schnell erstickt. Rasch war er stets wieder im Hier und Jetzt, arbeitete emsig an seinen Karten, die nie fertig zu werden schienen, erfüllte seine Pflichten, und scheute die Klarheit des Geistes, um irgendetwas Bedrohliches zu unterdrücken, das aus irgendeinem weiten Etwas ihn anflog und suchte, sich seiner zu bemächtigen. Ein beständiges Zittern wohnte in ihm, und nagte in seinem Körper, im Wachen, aber vor allem während der Zeit des Schlafes, und es wich oft erst mehrere Minuten nach dem Erwachen. Nie schien es zu schlafen, sondern lauerte in seinem Inneren, als warte es auf die nächste Gelegenheit, wo es ihn schutzlos überwältigen und quälen könnte. Nur manchmal wähnte er sich unbeschwert, immer dann, wenn seine Sinne etwas Nahrung bekamen, seine Augen die Schönheit der Stadt mit ihren filigranen Gebäude und verwinkelten Straßen wahrnehmen konnten. Besonders heute luden die Gassen wieder ein, erkundet zu werden. Sie versprachen, ihm zu helfen, sich einmal mehr zu entfernen von all dem, was ihm auferlegt schien. Obwohl - gleichzeitig fürchtete er sich, die vorgegebenen Wege zu verlassen.
Darius merkte auf einmal, dass der heutige Tempelbesuch ihm widerstrebte. Ein eigenartiges Unlustgefühl hatte sich bereits in ihm ausgebreitet, und gleichzeitig spürte er eine Art von Aufbruchstimmung. Noch immer gab es Stadtviertel, die er noch gar nicht kannte, ganz abgesehen von den Arbeitersiedlungen und Fabriken im nördlichen Industriegebiet, das er bisher nur aus der Ferne gesehen hatte.
Beda hatte unmerklich seine Schritte verlangsamt. Andere hatten sie bereits überholt, und in einiger Entfernung sah man schon die Menge bedächtig dem Eingang zuströmen. Eine Gruppe junger Mädchen huschte an Darius und Beda vorbei. Beda sah zu ihm herüber.
„Ich gehe heute nicht mit.“
Darius stutzte. Hatte Beda das Gleiche empfunden wie er? „Aber warum? Es ist doch, üblich, an diesem Tag ...“, hörte er sich sagen.
„Es ist üblich, ja. Aber nicht vorgeschrieben.“
Bedas Stimme klang ruhig, fast etwas gelangweilt, wie sonst auch. „Ich werde in der Zeit ein wenig durch die Stadt streifen“, fuhr Beda jetzt wieder in vertrauter Kraftlosigkeit fort, „so wie du es sonst machst.“ Er hatte wieder sein
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