Die Schneekönigin (illustrierte Ausgabe)
und fragte: „Wisst ihr nicht, wo der kleine Kay ist?“
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen, davon hörte Gerda viele, viele, aber keine wusste etwas von Kay.
Und was sagte denn die Feuerlilie?
„Hörst du die Trommel? Bum! Bum! Es sind nur zwei Töne, immer bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang! Höre den Ruf der Priester! — In ihrem langen roten Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen, die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor. Aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“
„Das verstehe ich durchaus nicht!“ sagte das kleine Gerda.
„Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.
Was sagt die Winde?
„Über dem schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg; dichtes Immergrün wächst um die alten roten Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie, keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baum entführt, ist schwebender als sie; wie rauscht das prächtige Seidengewand! ‚Kommt er noch nicht?‘“
„Ist es Kay, den du meinst?“ fragte das kleine Gerda.
„Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traume!“ erwiderte die Winde.
Was sagt die kleine Schneeblume?
„Zwischen Bäumen hängt an Seilen das lange Brett, das ist eine Schaukel. Zwei niedliche kleine Mädchen — die Kleider sind weiß wie der Schnee, lange grüne Seidenbänder flattern von den Hüten — sitzen und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist als sie, steht in der Schaukel, er hat den Arm um das Seil geschlagen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hält er eine kleine Schale, in der anderen eine Tonpfeife, er bläst Seifenblasen. Die Schaukel geht und die Blasen fliegen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiele, und biegt sich im Winde; die Schaukel geht. Der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen, und will mit in die Schaukel; sie steigt; der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. — Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!“
„Es ist wohl möglich, dass es hübsch ist, was du erzählst, aber du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay gar nicht.“
Was sagen die Hyazinthen?
„Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein. Das Kleid der Einen war rot, das der anderen blau, das der dritten ganz weiß. Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im klaren Mondscheine. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es süß, und die Mädchen verschwanden im Wald; der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanniswürmchen flogen leuchtend rings umher als kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen oder sind sie tot? — Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang.“
„Du machst mich ganz betrübt!“ sagte das kleine Gerda. „Du duftest so stark; ich muss an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und sie sagten: nein!“
„Kling, klang!“ läuteten die Hyazinthenglocken. „Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht! Wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir können!“
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervor schien.
„Du bist eine kleine klare Sonne!“ sagte Gerda. „Sage mir, ob du weißt, wo ich meinen Gespielen finden kann?“
Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte die Butterblume wohl singen? Es handelte auch nicht von Kay.
„In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage schön warm, ihre Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden hinab, dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl, die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen
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