Der Sonntagsmann
1. KAPITEL
Vor langer Zeit begegneten sich Wolf und Ren zum ersten Mal. Der Wolf erschrak vor dem großen Geweih und den dunklen Augen des Rens.
»Wozu brauchst du dein spitzes Geweih?«, fragte der Wolf.
»Du hast Recht, mein Geweih ist spitz«, antwortete das Ren. »Aber ich habe gerade erst das Licht der Welt erblickt und weiß nicht, wozu das Geweih verwendet wird.«
Doch den Wolf beruhigte das nicht.
»Warum starrst du mich mit deinen großen schwarzen Augen so an?«, wollte er wissen.
»Ich will dich nicht ängstigen, also wende ich meinen Blick ab«, sagte das Ren.
Jetzt war das Ren an der Reihe den Wolf zu befragen.
»Und wer bist du? Ich zittere vor Schreck, wenn ich deine gelben Zähne und deinen roten Rachen sehe.«
Als der Wolf hörte, dass das Ren Angst vor ihm hatte, wedelte er sachte mit dem Schwanz und knurrte: »Nimm dich vor mir in Acht, denn ich bin sehr hungrig.«
Seither ist der Wolf mächtiger und das Ren seine Beute.
Routiniert ließ er die Leine mit den Haken ins Wasser gleiten. Der Himmel war grau und bedeckt, Regen lag in der Luft, und es herrschte eine für das Nordmeer ungewöhnliche Stille. Das kleine Boot wippte behutsam voran. Aus Erfahrung wusste er, dass das Wetter abrupt umschlagen konnte. Aus der Flaute wurde schnell ein Unwetter, aber das hatte ihn nie davon abgehalten hinauszurudern. Auf offener See, weit entfernt vom Ufer, fühlte er sich wohl.
Die Berge hinter ihm wirkten wie Kathedralen. Sie erhoben sich senkrecht aus dem Meer, groß und mächtig, alt und zerklüftet, jeder mit seinem eigenen grauen Gesicht. Obwohl selbst ein ganzes Leben nicht ausreichte, um es zu bemerken, veränderten sie ständig ihr Aussehen. Unendlich langsam, aber unerbittlich verwitterten sie durch die Orgelmusik der tosenden Winde.
Er bemerkte sie nicht einmal mehr. Sie waren immer da gewesen. Andere Menschen kamen hierher, um sich von den Bergen verzaubern zu lassen, um sie zu besteigen und dem Himmel näher zu kommen, vielleicht um mit den Göttern in Kontakt zu treten. Aber er war wie die anderen Ansässigen. Für ihn waren die Berge eine Selbstverständlichkeit. Wenn er einen Hang zum Philosophieren und Grübeln gehabt hätte, hätte er sie sicher als Wachtposten betrachtet, als Schutz vor allen Bedrohungen. Einmal hatte er die Inseln verlassen, hatte versucht, sie endgültig zu verlassen, doch das war ihm nicht gelungen. Seither hatte er nur die notwendigen Fahrten aufs Festland erledigt und die eine oder andere Pauschalreise in den Süden unternommen.
Er war jetzt ein anderer. Lebte ein geregeltes Leben. Wer hätte das früher geglaubt? Es kam vor, dass seine Gedanken in die Vergangenheit wanderten. Immer seltener, es war besser, Gewesenes ruhen zu lassen. Aber das glückte ihm nicht immer. Wohin war sie verschwunden? Würde er es je erfahren?
2. KAPITEL
Die Berghänge waren mit einem satten Grün überzogen. Die Zikaden lärmten. Ein Vogel mit roten, grünen und blauen Federn flog dicht über die Äste hinweg. Unten im Tal schlängelte sich der Weg Richtung Sonnenuntergang. Das Meer funkelte.
Was habe ich hier verloren, dachte Kari Solbakken, als sie sich nach der kurzen Toilettenpause wieder in den Bus drängte. Es hatte keine Klobrille und erst recht kein Klopapier gegeben. Die Kleider klebten ihr auf der Haut, es war immer noch heiß, und die Luft war so sauerstoffarm, dass ein Streichholz erloschen wäre, falls man es bei dieser Feuchtigkeit überhaupt hätte anzünden können. Sie hatte einen Fensterplatz, aber das Fenster ließ sich nicht öffnen. Der Mann neben ihr war dick und saß deswegen halb auf ihrem Platz. Das Ticket war billig gewesen.
Drei Stunden später schulterte sie am Giap Bats-Busbahnhof mit steifen Bewegungen ihren Rucksack. Eine Traube erwartungsvoller Unternehmer bot sofort ihre Dienste an. »Motorbike?« Kari suchte in ihren Taschen nach einem Zettel.
»To here«, antwortete sie. Ein junger Mann beugte sich vor und las. »Hang Bac. Three dollar.« Kari war so müde, dass sie den Überpreis akzeptierte.
Er fuhr recht schnell und bahnte sich durch die Flut der Honda Wave-Motorräder geschickt seinen Weg. Ein junges Mädchen bog aus einer Seitenstraße vor ihnen ein, ohne sich umzusehen, aber Karis Fahrer wich ihr elegant aus. Dies war das Land, in dem sich die Verkehrsteilnehmer stillschweigend darauf geeinigt hatten, nicht miteinander zusammenzustoßen.
Sie fuhren an einem kleinen See vorbei, vielleicht handelte es sich auch nur um einen Teich,
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