Die schoene Tote im alten Schlachthof
auch einer von hier, allerdings von der anderen Seite des Flusses.
Zudem war er ein Studierter. Er hatte an der hiesigen Universität
Geschichtswissenschaft und Soziologie studiert sowie mit Politikwissenschaften
und Papyrologie begonnen. Dann, nach seinem Studium, hatte er Karriere beim
Trierischen Volksfreund gemacht. Ferschweiler konnte sich deshalb denken, warum
Graz hier war.
»Sag mal, hast du mal wieder etwas von deinem Cousin Gereon gehört?
Wie geht es ihm?«, fing Graz ganz harmlos an.
Graz und Ferschweilers Cousin waren zusammen in der Grundschule
gewesen, und auch Ferschweiler selbst verbanden mit Graz so einige Erlebnisse
aus seiner Jugend.
»Nee«, sagte Ferschweiler, »der meldet sich nicht mehr. Hat mit alldem
hier im Tal abgeschlossen und widmet sich nur noch der Sonne. Den sehen wir nie
wieder.«
»Ist doch auch gar nicht übel – die Sonne, meine ich, oder?«
Graz lachte sein auf viele einnehmend wirkendes Lachen. Aber
Ferschweiler kannte ihn genau.
»Wie man’s nimmt«, entgegnete Ferschweiler. »Also, was willst du so
früh von mir?«
»Du weißt schon, die Tote drüben im alten Schlachthof. Was kannst du
mir zu ihr sagen? Die Leser vom Volksfreund wollen Genaueres wissen.«
»Ich weiß noch gar nichts. Und wenn: Du wärst der Letzte, dem ich es
erzählen würde.«
»Ach, Rudi«, seufzte Graz. »Sei nicht immer so selbstgerecht. So
läuft es halt. Wir dienen alle nur dem Mammon.«
Ich nicht, dachte Ferschweiler und nahm einen letzten Schluck aus
seiner Tasse. »Ich muss los. Entschuldige mich, aber die Pflicht ruft. Du
findest ja selbst raus.«
Sprach’s und schlug die Tür hinter sich zu. Sollte Graz ruhig in
seiner Wohnung herumschnüffeln, Ferschweiler war das egal. Was konnte der
anderes finden als bei sich selbst zu Hause? Auch Graz war Junggeselle.
In all den Jahren, die Ferschweiler nun schon bei der
Mordkommission war, hatte er sich an zwei Dinge nie gewöhnen können: Das eine
war der nach jedem Fund einer Leiche anstehende Besuch bei den Angehörigen, das
andere war der Gang in die Pathologie. Und Letzteres stand Ferschweiler jetzt
unmittelbar bevor. Er musste Dr. Quint in dessen »Reich des Todes«, wie
Ferschweiler die Pathologie nannte, aufsuchen.
Die Nacht war keine gute gewesen. Ferschweiler hatte schlecht
geschlafen. Immer wieder war er wach geworden und hatte an die schöne Frau
denken müssen, die er nur wenige Stunden zuvor auf dem Boden im alten
Schlachthof liegen gesehen hatte. Nur selten hatte ihn der Anblick einer Toten
so bewegt wie dieser. Warum das so war, konnte sich Ferschweiler nicht wirklich
erklären. Es hing wohl mit seiner Vorstellung zusammen, wie diese Frau
ausgesehen und gewirkt haben musste, als sie noch am Leben gewesen war. Aber
sicher war er sich nicht.
Ferschweiler hatte sich dazu entschlossen, zu Fuß zum in der Nähe
des Hauptbahnhofs gelegenen Gebäude der Pathologie zu gehen. Der Gang würde ihm
sicherlich guttun und ihm beim Nachdenken helfen. Er überquerte also, die Hände
tief in den Taschen seines Mantels vergraben, die alte Römerbrücke, die
Trier-West mit der »Stadt« verband, wie alle in seinem Kiez die Innenstadt nur nannten.
Unter der Brücke mit ihren alten, noch aus der Antike stammenden Pfeilern
waberten Nebelschwaden über dem Fluss. Einzelne Schwäne und Enten waren
schemenhaft auf dem Wasser und am Ufer zu erkennen, und unter der Brücke schob
sich fast lautlos ein Schubverband mit Kohle für die Stahlwerke in Lothringen
hindurch.
Die Straßen der Stadt waren samstagmorgens um sechs noch fast wie
ausgestorben. Einige wenige Linien- und Touristenbusse fuhren schon ihre
Touren, und auch die Müllabfuhr hatte offensichtlich noch einiges aus der
vergangenen Woche nachzuholen.
Ferschweiler nahm den Weg durch die Karl-Marx- und die Brückenstraße,
wo er vor dem Karl-Marx-Haus einer Gruppe bereits auf die Öffnung des Museums
wartenden Asiaten ausweichen musste. Dann überquerte er die weite, unwirtliche
Fläche des Viehmarkts, die jetzt im November auch nicht mehr von den Tischen
und Stühlen der angrenzenden Gastwirtschaften zumindest teilweise belebt wurde.
Nach wenigen Minuten erreichte er die Fußgängerzone. Ab da war es nicht mehr
weit bis zu Dr. Quints heiligen Hallen.
Ferschweiler überquerte den Alleenring am Balduinsbrunnen und
erreichte die Roonstraße. An deren Ende lag auf der rechten Seite das alte
Gebäude der Gerichtsmedizin. Es war ein Bau aus den späten fünfziger Jahren mit
einem von eckigen
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