Die Schönen und Verdammten
[11] Anthony Patch
1913, Anthony Patch zählte fünfundzwanzig Jahre, waren bereits zwei Jahre verstrichen, seit sich – wenigstens theoretisch – Ironie, der Heilige Geist unserer Tage, auf ihn ausgegossen hatte. Ironie war das letzte Wienern des Schuhs, der abschließende Tupfer der Kleiderbürste, eine Art intellektuelles »Na bitte!« – nun, zu Beginn dieser Geschichte hat er es bis zum bewussten Stadium gebracht. Als man ihn das erste Mal zu Gesicht bekommt, fragt er sich häufig, ob er nicht ehrlos und leicht verrückt sei, etwas schändlich und abscheulich Dürftiges, das auf der Oberfläche der Welt schillert wie Öl auf einem klaren Teich. Selbstverständlich wechseln sich diese Momente mit jenen ab, da er sich eher für einen außergewöhnlichen jungen Mann hält: überaus kultiviert, seiner Umgebung gut angepasst und um einiges bedeutender als jeder andere, den er kennt.
Dies war ein gesunder Geisteszustand, der ihn auf intelligente Männer und auf alle Frauen munter, angenehm und äußerst attraktiv wirken ließ. In diesem Zustand traute er sich zu, eines Tages etwas verhalten Feinsinniges zu vollbringen, dessen Wert von wenigen Auserwählten erkannt werden würde, und hielt es für möglich, dass er sich nach seinem Hinscheiden in einem nebelhaften, unbestimmten Himmel auf halbem Wege zwischen Tod und [12] Unsterblichkeit den schwächer leuchtenden Sternen zugesellen würde. Bis zu dieser Anstrengung wäre er, Anthony Patch – nicht eben ein Bild von einem Mann, aber doch eine ausgeprägte und dynamische Persönlichkeit, von sich eingenommen, hochmütig, von innen heraus handelnd –, ein Mann, der sich bewusst war, dass es kein Ehrgefühl geben kann, und dennoch welches besaß, der die Sophisterei des Muts durchschaute und dennoch unerschrocken war.
Ein würdiger Mann und sein begabter Sohn
Anthony bezog sein Gefühl gesellschaftlicher Sicherheit aus dem Umstand, dass er der Enkel von Adam J. Patch war; wenn er seine Abstammung bis zu den Kreuzrittern übers Meer hätte zurückverfolgen können, wäre es auch nicht ausgeprägter gewesen. Denn ein Adel, der ganz auf Geld gegründet ist, verlangt vor allem Wohlstand – die Bewohner Virginias und Bostons ausgenommen…
Adam J. Patch, besser bekannt unter dem Namen »Cross Patch«, hatte Anfang 1861 die Farm seines Vaters in Tarrytown verlassen, um in ein New Yorker Kavallerieregiment einzutreten. Aus dem Krieg kehrte er als Major heim, eroberte Wall Street im Sturm und häufte unter viel Wirbel, Wut, Beifall und bösem Blut ein an die fünfundsiebzig Millionen Dollar umfassendes Vermögen an.
Dieses nahm seine Kräfte bis zu seinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr in Anspruch. Dann, nach einem schlimmen Anfall von Sklerose, beschloss er, den Rest seines Lebens der sittlichen Erneuerung der Welt zu weihen. Er [13] wurde zu einem Reformer unter Reformern. Er versuchte, es den großartigen Anstrengungen Anthony Comstocks, nach welchem sein Enkel benannt war, nachzutun, und versetzte dem Alkohol, der Literatur, dem Laster, der Kunst, den Pillen und dem Sonntagstheater eine bunte Abfolge von Haken und Schlägen. Unter dem Einfluss jenes heimtückischen Mehltaus, der letztlich mit wenigen Ausnahmen alle befällt, gab sich sein aufbrausendes Temperament jeder Entrüstung des Zeitalters hin. Von einem Sessel im Büro seines Guts in Tarrytown aus leitete er gegen das Gespenst eines gewaltigen Feindes, die Sündhaftigkeit, einen Feldzug, der über fünfzehn Jahre anhielt. Während dieser Zeit erwies er sich als fanatischer Monomane, ausgesprochene Landplage und unerträglicher Langweiler. In dem Jahr, da unsere Geschichte beginnt, war er bereits abgekämpft; sein Feldzug war ziellos geworden; langsam überlagerte 1861 das Jahr 1895; in Gedanken befasste er sich ausführlich mit dem Bürgerkrieg, weniger ausführlich mit seiner verstorbenen Frau und seinem verstorbenen Sohn und so gut wie gar nicht mit seinem Enkel Anthony.
Zu Beginn seiner Karriere hatte Adam Patch Alicia Withers geheiratet, eine anämische Dame von dreißig Jahren, die hunderttausend Dollar und ein untadeliges Entree in die New Yorker Bankierskreise mit in die Ehe brachte. Diese hatte ihm unverzüglich und ziemlich draufgängerisch einen Sohn geboren und sich fortan, als sei sie von der Erhabenheit dieser Leistung vollkommen entkräftet, in die dämmrigen vier Wände des Kinderzimmers zurückgezogen. Der Knabe, Adam Ulysses Patch, entwickelte sich zu einem eingefleischten Klubgänger,
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