Die schönsten Dinge
Professor Carmichael ein junges Gesicht, über seinen Schädel spannt sich rosafarbene Babyhaut. Aber sein Alter und seine allgemeine Unzufriedenheit zeigen sich an der schlaffen, faltigen Haut an seinem Hals, die so weit überlappt, dass er darunter einen Kleinwagen verstecken könnte. Bevor er Verwalter der Stiftung wurde, hat Carmichael an einer traditionsreichen Universität am anderen Ende der Welt auf dem Gebiet der Reinen Mathematik geforscht. Jetzt scheint er keine Verbindungen zum Wissenschaftsbetrieb mehr zu pflegen, er hat weder Freunde noch Kollegen an den Universitäten, die ich ausgewählt habe. Seit seiner Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen ist das hier seine einzige berufliche Tätigkeit. Er war wohl mit Daniel Metcalfs Vater befreundet, also ist sein Posten eine lukrative Ehrenschuld. Dabei erfüllt Carmichael seine Aufgabe nicht gerade gewissenhaft. Er entscheidet in diesen Fällen, und das offenbar ohne rechte Grundlage. Daniel Metcalf selbst winkt Carmichaels Entscheidungen nur durch. Seine Anwesenheit bei diesen letzten Bewerbungsgesprächen ist reine Formsache. Für einen Metcalf sind 25 000 Australische Dollar Kleingeld und dazu steuerlich absetzbar.
Links von Daniel Metcalf sitzt eine unelegante Frau Mitte fünfzig, fünfundsiebzig Kilo, katzengrüne Augen. Vor ihr liegt ein Block, sie hat einen Stift in der Hand und hält den Kopf gesenkt. Die Sekretärin, Mrs Tesseraro. Sie kann ich ignorieren.
Wir sitzen auf Stühlen aus Rotholz mit geschwungenen Beinen und karminroten Samtpolstern in Sitz und Lehne, die in gleichmäÃigen Abständen um den Tisch und entlang den Wänden verteilt sind. Im ersten Moment fällt es mir schwer, mich auf die drei Menschen mir gegenüber zu konzentrieren: Alle Wände dieses Zimmers sind mit Büchern in weichen Ledereinbänden bedeckt, wahrscheinlich am laufenden Meter gekauft um des gediegenen Eindrucks willen. Die Gesichter verschmelzen damit.
Mit Mühe konzentriere ich mich wieder auf Daniel Metcalf. Sein Auftreten verrät, aus was für einer Familie er stammt. Auch wenn er lässige Kleidung trägt, gehört er einfach in dieses Haus, im Gegensatz zu den anderen. Er wirkt wie ein Pharao zwischen zwei aufgeblasenen Hohepriestern. Ich versuche, ihn mir in einer anderen Umgebung vorzustellen, in einer Studentenbude, einem Krankenhaus, auf einem Spielplatz. Es funktioniert nicht. Er passt nur hierher.
Der Raum ist so überladen, dass ich Durst bekomme. Ich blinzle ein paarmal, dann erwidert er meinen Blick.
»Daraus könnten Sie glatt eine Bibliothek für Toorak und Umgebung machen«, sage ich. »Haben Sie die ganzen Bücher gelesen?«
»Dafür habe ich meine Leute. So ein groÃes Projekt überlässt man lieber den Profis. An dieser Wand stehen gröÃtenteils Gedichte, und die können sich nicht selbst bewundern«, sagt er. »Sie ist doch hoffentlich nicht kaputt.«
Ich merke, dass ich mit meiner Brille spiele, sie an einem Bügel hin und her drehe. »Die ist kugelsicher«, antworte ich. Ich setze mir die Brille oben auf den Kopf und schiebe sie dann nach unten, als würde ich vor einem Ritterturnier mein Visier herunterklappen. »Ich müsste dagegen mal etwas unternehmen. Mir die Augen lasern lassen oder so. Ohne die Brille bin ich blind wie ein Maulwurf.«
In diesem Moment fühle ich mich nicht wie eine richtige Wissenschaftlerin. Ruby hat mir Eleganz beigebracht, und es gehört zu jedem Job, dass man seine Vorzüge möglichst gut einsetzt. Meine Kleidung etwa habe ich sorgfältig ausgewählt: eine körperbetonte, schlicht geschnittene Khakihose ohne Bundfalten mit einem Schlangenledergürtel. Dazu ein ärmelloses, tailliertes Shirt mit einem leicht khakifarbenen Schimmer, der meine grünen Augen unterstreicht, und offene schwarze Pumps. Ich trage klassische Schnitte und solide Farben. Heute früh habe ich mir die Haare geglättet, um eleganter zu wirken, aber ich hätte sie mir gestern Abend auch färben sollen. Für einen ernsthaften Menschen sind sie zu rot. Aber offenbar könnte ich genauso gut einen Jogginganzug unter einem fleckigen Laborkittel tragen. Daniel Metcalf scheint nicht darauf anzuspringen. Er sitzt zurückgelehnt auf seinem Stuhl und hält immer noch das Handy in der Hand.
Carmichael räuspert sich demonstrativ. »Dr. Canfield. Ihre Bewerbung. Wir haben
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