Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
mittelständischen Unternehmen, jeder freiberuflichen Arbeitsgemeinschaft, in jedem Ladenlokal, jeder Putzkolonne.
Ziemlich beschaulich geht es wohl nur zu, wenn man in einem wohlhabenden Land lebt, das kaum Aufsteiger und kaum Absteiger
kennt. Es gibt Menschen, die haben das noch erlebt. Sie hatten ein sattes Wirtschaftswachstum im Rücken, sie studierten, bis
die Schläfen grau wurden, diskutierten über Trotzki, bis die Stimme heiser, tauschten Partner, bis die Libido ermattet war.
Dann retteten sie sich noch schnell in die |24| sicheren Häfen des Beamtentums und der Ehe, um noch das eine oder andere Kind ihren Lenden abzuringen.
In den WG-Küchen sollte es wahrhaftig zugehen, dort gelangte der ungeheure Ausstoß an Psychologie, den die bürgerlichen Jahrhunderte
kultiviert hatten, zu seinem Höhepunkt. An den mit Wachstropfen gesprenkelten Tischen wurde nach erfolgtem Liebesspiel über
den weiblichen Orgasmus gesprochen und wie er sich anfühlt angesichts des noch nicht vollständig beseitigten Patriarchats.
Was für ein Triumph über die schweigsamen Eltern, dass endlich die feinsten seelischen Verästelungen mit verzärtelter Stimme
entblößt werden konnten!
Ähnliches erzählen auch manche Ostdeutsche, wenn sie mit vager Melancholie an die Hilfsbereitschaft erinnern, die einst an
jeder Ecke einer bröckeligen Fassade erblühte! Wie selbstverständlich half man sich damals mit raren Ersatzteilen für den
stotternden Wagen aus, und in den Kneipen saßen noch die Arbeiter gemeinsam mit den Professoren am Tresen, wohnten im selben
Block.
Wer sich heute in eine Lounge begibt, im Hintergrund läuft verhalten Musik, mag noch Reste des alten Wahrhaftigkeitskults
erblicken, sieht Männer und Frauen, die in klebriger Vertrautheit im gedämpften Licht sitzen und die Nuancen seelischer Verwerfungen
erkunden. Es ist wohl die letzte Generation, die vom Wirtschaftswunder der Großeltern noch eine kleine Weile wird zehren können.
Die Jahre jener Männer und Frauen waren bislang vergangen wie ein langer Sonntagnachmittag, sie waren in den achtziger |25| Jahren aufgewachsen, dem, wie einmal treffend gesagt worden ist, langweiligsten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts: Nicole sang
ein bisschen vom Frieden, und Boris Becker spielte ein wenig Tennis. Doch wer heute Gespräche belauscht, als Beobachter, der
sich wie zufällig hineinbegibt in die mit weißen Billy-Regalen bestückten Wohnzimmer, hört und sieht erneut das alte Spiel
der Verstellung.
Die Verstellung war natürlich nie ganz verschwunden, sie gehört zum Menschsein dazu wie das Fingernägelschneiden oder der
aufrechte Gang. Nur lohnte es sich, da die Lebensläufe, die man vor sich hatte, ziemlich vorhersehbar schienen, über lange
Zeit nicht recht, zu intrigieren.
Entscheidend ist nach wie vor die Frage, was anzuziehen sei, welches Hemd stilvoller sei, welches Auto einen in günstigerem
Licht dastehen lasse, doch die gute, melancholische Laune ist versiegt und gewiss nicht nur in dieser Generation: der Stress;
das Handy, das in der Nacht noch klingelt; das fünfte Praktikum in Folge, und noch immer kein rechter Job; zu wenig Zeit,
sagen die Erfolgreichen; schon wieder ein Umzug, sagen die Überforderten. Man eilt von einer Stadt in die andere, wechselt
den Beruf, steigt auf, steigt wieder ab, arbeitet an wechselnden Projekten, in wechselnden Teams, unter wechselnden Chefs,
checkt siebenundsechzig Mal am Tag seine Mails. Die Beweglichkeit ist hoch, die Konkurrenz erbittert, doch die Verstellung
ist blendend: So freundlich war die Welt wohl nie, selten war sie in derart süße Worte verpackt. Der Choleriker ist Vergangenheit,
dem Charmeur gehört die Zukunft.
|26| In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche tritt der Verstellungskünstler besonders markant ins Licht. Passé sind die in Dreireiher
und mit Monokel posierenden Großbürger in zerknitterten Fotoalben oder stolze Arbeiter, die stattlich vor großen Maschinen
stehen, mit hochgekrempelten Ärmeln, zum Kampf der Körper gerüstet, passé die Gewissheit einer klassischen Festanstellung.
Aufbegehrt wird nicht. Nicht der Angestellte meutert, nicht der Freiberufler oder der Scheinselbständige. Nur die Unterschicht
zieht ab und an in versprengten und desolaten Gruppen durch die Hauptstadt mit schäbigen Plakaten, Trillerpfeifen und Alkoholfahnen.
Aufbegehren? Das gehört der Vergangenheit an. Gegen wen denn? Gegen den Vorgesetzten, der mit der Knute die
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