Die Schriften von Accra (German Edition)
keiner von uns wusste genau, weshalb er dort war. Würden wir uns etwa noch eine Predigt über diese Eindringlinge anhören müssen, die sich selber »Kreuzritter« nennen?
Der Kopte genoss die Verwirrung, die sich unserer bemächtigt hatte. Und nach einem langen Schweigen erklärte er:
»Sie können die Stadt zerstören, aber sie können nicht all das vernichten, was uns die Stadt gelehrt hat. Daher darf dieses Wissen nicht das Schicksal unserer Mauern, Häuser und Straßen erleiden.
Aber was für ein Wissen ist das?«
Da niemand antwortete, fuhr er fort:
»Es ist nicht das absolute Wissen über das Leben und den Tod, sondern das, was uns hilft, zu leben und die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Es ist nicht die Bildung aus Büchern, die nur dazu dient, nutzlose Diskussionen über das zu führen, was geschehen ist oder geschehen wird, sondern die Weisheit, die im Herzen der Menschen guten Willens wohnt.«
Der Kopte sagte:
»Ich bin ein gebildeter Mann, habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, Dinge aus vergangenen Jahrhunderten wiederherzustellen und zu klassifizieren. Ich habe über Politik diskutiert, dennoch weiß ich jetzt nicht genau, was ich sagen soll. Aber ich werde die göttliche Kraft bitten, mein Herz zu läutern. Ihr stellt mir Fragen, und ich werde antworten. Im alten Griechenland lernten so die Meister: indem ihre Schüler sie zu etwasbefragten, über das sie zuvor nie nachgedacht hatten, nun aber gezwungen waren, eine Antwort zu finden.«
»Und was machen wir mit den Antworten?«, fragte jemand.
»Einige von euch werden aufschreiben, was ich sage. Andere werden die Worte im Gedächtnis bewahren. Das Wichtigste aber ist, dass ihr euch heute Nacht in alle Himmelsrichtungen aufmacht und verbreitet, was ihr gehört habt. So wird die Seele Jerusalems bewahrt werden. Und eines Tages werden wir Jerusalem nicht nur als Stadt aus Stein wiederaufbauen, sondern als einen spirituellen Ort, an dem die Weisheit zusammenfließt und der Frieden wieder regiert.«
»Wir alle wissen, was uns morgen erwartet«, sagte ein anderer Mann. »Wäre es nicht besser, darüber zu sprechen, wie wir einen Frieden aushandeln oder uns auf den Kampf vorbereiten können?«
Der Kopte schaute die Gottesmänner an, die neben ihm saßen, und wandte sich dann an die Menge.
»Niemand weiß, was der morgige Tag für uns bereithält, denn jeder Tag hat seine guten und schlimmen Augenblicke. Daher vergesst, wenn ihr eure Fragen stellt, die Truppen dort draußen und die Angst hier drinnen. Unser Vermächtnis wird nicht sein, jenen, die die Erde einmal erben werden,zu sagen, was am heutigen Tag geschehen ist; das wird die Geschichte tun. Lasst uns also von unserem Alltag sprechen, von den Schwierigkeiten, die wir bewältigen mussten. Nur das interessiert künftige Generationen, denn ich bezweifle, dass sich in den nächsten tausend Jahren viel ändern wird.«
Da bat mein Nachbar Yakob:
»Sprich zu uns über die Niederlage.«
W as würdest du sagen?«, fragte der Kopte zurück. »Fühlt ein Blatt, das im Winter vom Baum fällt, sich von der Kälte besiegt?
Der Baum sagt zum Blatt: ›Dies ist der Kreislauf der Natur. Auch wenn du glaubst, dass du sterben wirst, lebst du in mir weiter. Dir verdanke ich, dass ich lebe, weil ich durch dich atmen konnte. Dir verdanke ich, dass ich mich geliebt fühlen durfte, denn ich konnte dem müden Wanderer Schatten spenden. Dein Saft ist in meinem Saft, wir sind eins.‹
Kann sich ein Mann besiegt fühlen, der sich jahrelang darauf vorbereitet hat, den höchsten Berg der Welt zu erklimmen, wenn er zum Berg gelangt und sieht, dass die Natur diesen in ein Unwetter gehüllt hat? Der Mann sagt zum Berg: ›Mag sein, dass du mich jetzt nicht willst, aber das Wetter wird sich ändern, und eines Tages werde ich deinen Gipfel erklimmen. Einstweilen wirst du dort auf mich warten.‹
Kann ein junger Mann, wenn er von seiner ersten Liebe abgewiesen wird, behaupten, es gebe die Liebe nicht? Der junge Mann sagt sich: ›Ich werde jemandem begegnen, der versteht, was ich fühle. Und dann werde ich für den Rest meines Lebens glücklich sein.‹
Es gibt im Kreislauf der Natur weder Sieg noch Niederlage. Es gibt nur Bewegung.
Der Winter kämpft darum, alleiniger Herrscher zu sein, aber am Ende wird er den Sieg des Frühlings hinnehmen müssen, der Blumen und Freude mit sich bringt.
Der Sommer will, dass seine heißen Tage ewig fortdauern, weil er überzeugt ist, dass nur die Wärme der Erde
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