Die Schriften von Accra (German Edition)
Wahrheit. Ich bin gerade einmal einundzwanzig Jahre alt, habe Eltern, die mir viel Liebe gegeben haben und eine gute Erziehung angedeihen ließen, und bin mit einer Frau verheiratet, die ich liebe und die mich liebt – und doch wird das Leben uns morgen trennen. Jeder wird für sich den eigenen Weg gehen, das eigene Schicksal und die eigene Art und Weise suchen, dem Tod ins Auge zu blicken.
Für unsere Familie ist heute der 14. Juli 1099. Für die Familie meines Nachbarn Yakob, mit dem ich schon als Kind hier in den Straßen Jerusalems gespielt habe, ist es das Jahr 4859 – er liebt es, mir zu sagen, dass die jüdische Religion älter ist als meine. Für den verehrten Ibn al-Athir, der sein ganzes Leben lang eine Geschichte aufgeschrieben hat, deren Abschluss nun bevorsteht, neigt sich das Jahr 492 seinem Ende zu. Zwischen uns herrscht weder Einigkeit hinsichtlich der Zeitrechnung noch hinsichtlich der Art, Gott zu verehren, doch ansonstenist unser Zusammenleben immer sehr harmonisch gewesen.
Vor einer Woche haben sich unsere militärischen Befehlshaber versammelt: Die französischen Truppen, die vor den Toren stehen, sind unseren unendlich überlegen und besser ausgerüstet. Alle Bürger wurden vor die Wahl gestellt, entweder die Stadt zu verlassen oder bis zum Tod zu kämpfen, denn wir würden zweifelsohne besiegt werden. Die meisten haben sich entschlossen zu bleiben.
Die Anhänger des Islam versammeln sich in diesem Augenblick in der al-Aqsa-Moschee. Die Juden haben den Mihrab Dawud, Davids Heiligtum, ausgewählt, um dort ihre Soldaten zusammenzuziehen, und den Christen, die in vielen Stadtteilen verstreut leben, wurde die Verteidigung des Südens der Stadt übertragen.
Draußen können wir bereits die aus dem Holz von eigens dafür zerlegten Schiffen gebauten Belagerungstürme sehen. Aufgrund der feindlichen Truppenbewegungen nehmen wir an, dass sie im Morgengrauen angreifen und im Namen des Papstes, im Namen der »Befreiung« der Stadt, gemäß dem »göttlichen Wunsch« viel Blut vergießen werden.
Heute Abend fand sich im selben Hof, in dem vor einem Jahrtausend der römische StadthalterPontius Pilatus Jesus der Menge übergeben hatte, damit er gekreuzigt würde, eine Gruppe aus Männern und Frauen jeden Alters zusammen, um dem Griechen zuzuhören, den wir hier alle als »den Kopten« kennen.
Der Kopte ist ein seltsamer Mensch. Als junger Mann verließ er seine Heimatstadt Athen, um auf die Suche nach Abenteuern und Reichtum zu gehen. Am Ende klopfte er halb verhungert an die Tore unserer Stadt, die ihn freundlich aufnahm. Mit der Zeit gab er seine Absicht auf, seine Reise fortzusetzen, und beschloss, sich hier niederzulassen.
Er fand eine Anstellung bei einem Schuster und begann – wie Ibn al-Athir –, all das, was er sah und hörte, für die Nachwelt aufzuzeichnen. Er zeigte kein Interesse daran, sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen, und niemand drängte ihn dazu.
Ihm ist gleichgültig, ob das Jahr, in dem wir leben, das 1099. oder das 4859. ist oder ob das Jahr 492 zu Ende geht. Dem Kopten ist nur der gegenwärtige Augenblick wichtig. Er glaubt an ihn und an etwas, das er Moira nennt – die göttliche Kraft, welche für ein einziges Gesetz steht, das niemals übertreten werden darf, da sonst die Welt enden wird.
Neben dem Kopten saßen die Oberhäupter derdrei Religionen, die in Jerusalem zu Hause sind. Bei dem Gespräch war keiner der weltlichen Machthaber zugegen – sie waren mit den letzten Vorbereitungen für den Widerstand beschäftigt, den wir jedoch für vollkommen sinnlos halten.
»Vor vielen Jahrhunderten wurde auf diesem Platz ein Mann gerichtet und verurteilt«, begann der Grieche. »Auf der Straße, die dort nach rechts führt, kam er an einer Gruppe von Frauen vorbei, als er seinem Tod entgegenging. Als er sah, wie sie weinten, sagte er:
›Weinet nicht um mich, weint um Jerusalem. Für dich, Jerusalem, kommt eine Zeit, da werden deine Feinde einen Wall um dich bauen; sie werden dich belagern und dich von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich und deine Bewohner niederwerfen und in der ganzen Stadt keinen Stein mehr auf dem anderen lassen.‹
Er prophezeite, was jetzt geschieht. Von morgen an wird, was vorher Harmonie war, zu Zwietracht. Was Freude war, wird durch Trauer ersetzt. An die Stelle des Friedens wird ein Krieg treten, der sich bis in eine so ferne Zukunft hinziehen wird, dass wir sein Ende nicht einmal träumen können.«
Niemand sagte etwas, denn
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