Die Schuld des Tages an die Nacht
Stimmung ist festlich. Die Rotonde versprüht ihre Wassergarben inmitten eines Verkehrskreisels, umringt von ihren steinernen Wächtern, den Löwen. Ein Japaner, der im Fahrzeuggewühl ein wenig verloren wirkt, fotografiert seine Gefährtin. Eine Kinderschar drängt sich in einem Miniaturzirkus um einige Spiele; kleine Jungen schwingen unter dem gestressten Blick ihrer Eltern an Gummibändern durch die Luft. Die sonnenüberströmten Terrassen sind schwarz vor Menschen; kein einziger Tisch ist mehr frei; die Kellner laufen durcheinander, balancieren ihr Tablett auf der flachen Hand. Michel lässt einen umweltfreundlichen Minibus mit Touristen vorbei und fährt dann langsam den Cours Mirabeau hinauf, um etwas weiter oben, auf Höhe eines uralten Brunnens, in die Rue du 4 -Septembre einzubiegen. Unweit meines Hotels ist ein weiterer Brunnen, bei dem das Wasser aus den Mäulern versteinerter Delphine spritzt. Eine junge Blondine empfängt uns an der Rezeption und lässt mich erst ein Formular ausfüllen, bevor sie mir ein Mansar denzimmer im dritten Stock anweist. Ein Hotelpage begleitet uns nach oben, stellt meine Reisetasche auf einen Tisch, öffnet das Fenster, sieht nach, ob alles in Ordnung ist, und verschwindet, nachdem er mir einen angenehmen Aufenthalt gewünscht hat.
»Ich lasse Sie ein wenig ausruhen«, meint Michel. »Ich hole Sie in knapp zwei Stunden wieder ab.«
»Ich würde gerne den Friedhof aufsuchen.«
»Das ist für morgen vorgesehen. Heute werden Sie bei mir erwartet.«
»Ichmöchte aber jetzt auf den Friedhof, solange es noch hell ist. Es ist mir wirklich wichtig.«
»Einverstanden. Ich rufe unsere Freunde an und bitte sie, eine Stunde später zu unserem Treffen zu erscheinen.«
»Vielen Dank. Ich muss mich wirklich nicht groß frisch machen oder gar ausruhen. Wir können gleich aufbrechen, wenn es Ihnen passt.«
»Ich muss vorher noch rasch etwas erledigen. Es wird nicht lange dauern. Eine knappe Stunde, ist Ihnen das recht?«
»Sehr gut. Ich werde unten an der Rezeption auf Sie warten.«
Michel zückt sein Handy und schließt im Gehen die Tür hinter sich.
Eine halbe Stunde später ist er wieder da, entdeckt mich auf der Außentreppe des Hotels, wo ich ihn schon erwarte. Ich nehme neben ihm Platz. Er fragt, ob ich mich ein wenig erholt habe. Ich antworte, dass ich mich kurz hingelegt habe und nun frisch und munter sei. Wir fahren den Cours Mirabeau hinab. Im Schatten der Platanen herrscht ausgelassenes Treiben.
»Was wird denn heute gefeiert?«, frage ich.
»Das Leben, Monsieur Jonas. Aix feiert alle Tage das Leben.«
»Ist in dieser Stadt immer so viel los?«
»Meistens.«
»Sie haben wirklich Glück, hier zu wohnen.«
»Ich würde auch um nichts auf der Welt meine Tage woanders beenden wollen. Aix ist eine wunderbare Stadt. Meine Mutter sagte immer, die Sonne von Aix tröste sie fast über den Verlust der Sonne von Río Salado hinweg.«
Der Cimetière Saint-Pierre, auf dem unter anderen Berühmtheiten und Märtyrern auch Paul Cézanne ruht, ist menschenleer. Am Eingang begrüßt mich eine nationale Gedenkstätte aus ockerfarbenem provenzalischem Muschelkalk, dem Andenken der Algerienfranzosen und der Heimkehrer aus Übersee gewidmet. Die wahre Grabstätte der Toten ist das Herz der Lebenden ist dort zu lesen. Asphaltwege führen an kleinen Rasenkarreesvorbei, auf denen jahrhundertealte Grabkapellen wachen. Auf manchen Gräbern erinnern Fotos an jene, die nicht mehr von dieser Welt sind; eine Mutter, ein Gatte, ein Bruder, allzu früh verschieden. Die Gräber sind mit Blumen geschmückt; der sanft schimmernde Marmor dämpft das grelle Tageslicht, erfüllt die Stille mit ländlichem Frieden. Michel führt mich durch ordentliche Alleen, sein Schritt knirscht auf dem Kies, der Kummer hat ihn eingeholt. Er bleibt vor einem Grab aus anthrazitgrauem, weißgesprenkeltem Granit stehen, das fast zur Gänze unter einem leuchtenden Blütenmeer bunter Kränze verschwindet. Darauf eine schlichte Inschrift:
Émilie Benyamin, geb. Cazenave 1931 – 2008
»Ich nehme an, Sie möchten jetzt einen Augenblick allein
sein?«, fragt Michel.
»O ja, bitte.«
»Ich dreh dann mal eine Runde.«
»Vielen Dank.«
Michel neigt leicht den Kopf, beißt sich auf die Unterlippe. Der Schmerz droht ihn zu übermannen. Mit gesenktem Blick, die Hände im Rücken verschränkt, zieht er los. Als er hinter einer Reihe von Grabkapellen aus Cassis-Stein verschwunden ist, gehe ich vor Émilies Grab in die Hocke,
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