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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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mein Vater brauchte niemanden. Er wusste genau, was er zu tun hatte und wo er das, was er brauchte, finden konnte.
    Dann, eines Nachts, brach ohne Vorwarnung das Unglück über uns herein. Unser Hund heulte, wie er noch nie geheult hatte.Ich dachte, die Sonne habe sich vom Firmament gelöst und sei auf unserem Grund und Boden zerschellt. Es musste drei Uhr morgens sein, doch unsere Hütte war taghell erleuchtet. Meine Mutter stand fassungslos auf der Türschwelle, beide Hände an die Schläfen gepresst. Der Lichtschein von draußen ließ ihren vervielfachten Schatten über die Innenwände tanzen. Meine Schwester duckte sich im Schneidersitz auf ihrer Matte im Eck, am Daumen lutschend, mit leerem Blick.
    Ich rannte in den Hof hinaus und erblickte ein Flammenmeer, das sich unaufhaltsam über unsere Felder ergoss; es loderte bis hoch zum Himmelszelt, an dem kein Stern mehr Wache hielt.
    Mein Vater war völlig von Sinnen. Schweißnass, den nackten Rücken von schwärzlichen Spuren überzogen, eilte er mit einem armseligen Eimer hin und her, tauchte ihn in die Viehtränke, hastete zur Feuersglut, verschwand im Flammenmeer, kam zurück, um neues Wasser zu holen, und tauchte wieder ein in die Höllenglut. Er merkte gar nicht, wie albern es war, dass er sich so standhaft weigerte, den Tatsachen ins Auge zu sehen, zu erkennen, dass kein Gebet und kein Wunder jetzt noch verhindern konnten, dass seine Träume sich in Rauch auflösten. Meine Mutter sah sehr wohl, dass alles verloren war. Sie schaute ihrem Mann zu, der wie ein Wilder umhersprang, und fürchtete, ihn für immer in der Glut verschwinden zu sehen. Mein Vater war imstande, mit beiden Armen die brennenden Garben an sich zu drücken und sich mit ihnen zusammen verbrennen zu lassen. Denn war er inmitten seiner Felder nicht in seinem ureigenen Element?
    Im Morgengrauen war mein Vater noch immer dabei, die Rauchkräusel zu besprengen, die von den verkohlten Weizenbüscheln aufstiegen. Von den Feldern war nichts übriggeblieben, doch er brachte es nicht übers Herz, sich das einzugestehen. Aus trotziger Verbitterung.
    Das war doch nicht gerecht.
    Drei Tage vor Erntebeginn.
    Knappvor der Errettung.
    So kurz vor Tilgung seiner Schuld.
    Am späten Vormittag fügte mein Vater sich schließlich in das Offenkundige. Den Eimer am ausgestreckten Arm, wagte er es endlich, den Blick über das ganze Ausmaß des Desasters streifen zu lassen. Lange schwankte er auf zittrigen Waden umher, mit verzerrten Zügen, blutrotem Blick, dann sank er auf die Knie, streckte sich bäuchlings auf dem Boden aus und überließ sich, während wir ungläubig zusahen, dem, was ein Mann, ein echter Mann, eigentlich niemals in Anwesenheit anderer tat – er weinte, bis er keine Tränen mehr hatte.
    Da begriff ich, dass unsere Schutzheiligen uns unwiderruflich verstoßen hatten und dass fortan, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts, das Unglück unser Schicksal war.
    Die Zeit war für uns einfach stehengeblieben. Natürlich verbarg sich der Tag noch immer vor der Nacht, folgte der Abend auf die Morgenröte, kreisten die Geier weiter am Himmel, aber was uns betraf, schienen die Dinge an ihr Ende gelangt. Ein neues Kapitel wurde aufgeschlagen, und wir kamen darin nicht mehr vor. Mein Vater irrte unablässig über seine verwüsteten Felder, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, inmitten von Schatten und Schutthaufen – ein Geist, der nicht von seinen Ruinen loskommt. Meine Mutter beobachtete ihn durch das Mauerloch, das ihr als Sehschlitz diente. Und immer wenn er sich mit der flachen Hand auf die Oberschenkel oder die Wangen schlug, vollführte sie eine Schutzgeste, wobei sie die Namen sämtlicher Marabouts der Region murmelte, überzeugt, ihr Mann habe den Verstand verloren.
    Eine Woche später erschien ein Mann bei uns. Wie ein Sultan sah er aus mit seinem Prunkgewand, dem sorgsam gestutzten Bart und der medaillenbestückten Brust. Es war der Kaid, und er kam in Begleitung seiner Prätorianergarde. Ohne aus seiner Kalesche zu steigen, herrschte er meinen Vater an, er solle seine Fingerabdrücke auf den Papieren hinterlassen, die ein hohlwangigerFranzose mit wachsbleichem Teint, der von Kopf bis Fuß schwarz gewandet war, flugs aus seinem Aktenkoffer zog. Mein Vater ließ sich das lieber nicht zweimal sagen. Er tauchte seine Fingerkuppen in einen tintengetränkten Schwamm und drückte sie auf die Blätter. Kaum waren die Dokumente unterzeichnet, war der Kaid schon wieder verschwunden. Mein Vater blieb wie

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