Die Buecher und das Paradies
Inhalt
Einleitung
Dieses Buch versammelt eine Reihe von Gelegenheitsschriften, die sich um das Problem der Literatur drehen. Gelegenheitsschriften, da angeregt durch den Titel eines Kongresses, Symposions, Kolloquiums oder Sammelbandes, zu denen ich eingeladen war. Manchmal dient der Zwang, sich mit einem Thema zu beschäftigen (auch wenn man selbstverständlich vorwiegend zu Kongressen geht, deren Thema die eigenen Interessen irgendwie berührt), zur Entwicklung einiger neuer Gedanken oder zur Bekräftigung alter.
Sämtliche Schriften sind für dieses Buch überarbeitet worden, manchmal gekürzt, manchmal erweitert, manchmal von allzu situationsgebundenen Bezugnahmen bereinigt. Aber ich habe an keiner Stelle versucht, ihren Gelegenheitscharakter zu verschleiern. 1
Der Leser wird bemerken, daß manche Themen oder Beispiele in verschiedenen Schriften wiederkehren, manchmal nach Jahren. Ich finde das ganz natürlich, jeder von uns schleppt sein Gepäck von exemplarischen »Stellen« (Topoi) mit sich herum. Und durch Wiederholung, solange sie nicht ernstlich stört, werden sie klarer.
Einige Schriften sind auch oder vorwiegend autobiographischer beziehungsweise autokritischer Art, inso-fern ich mich in ihnen über meine Tätigkeit nicht als Theoretiker, sondern als Schriftsteller äußere. Im allgemeinen mag ich die Vermischung dieser beiden Rollen nicht, aber bisweilen kann es notwendig sein, um zu erklären, was man unter Literatur versteht, auch auf die eigenen Erfahrungen zurückzugreifen. Jedenfalls bei so informellen Begegnungen oder Anlässen, wie es die meisten der hier herangezogenen waren. Im übrigen genießt ja das Genre »Darlegungen zur eigenen Poetik« mittlerweile großes Prestige.
Über einige Funktionen der Literatur 2
Der Legende zufolge - und wenn sie nicht stimmt, ist sie gut erfunden - hat Stalin einmal gefragt, wie viele Divisionen der Papst besitze. Was in den Jahrzehnten seither geschehen ist, hat uns bewiesen, daß Divisionen unter bestimmten Umständen sicher wichtig sind, aber nicht alles. Es gibt immaterielle Mächte, die sich nicht nach Gewicht messen lassen, aber sehr wohl ins Gewicht fallen.
Wir sind umgeben von immateriellen Mächten, die sich nicht auf jene beschränken, die wir die geistigen Werte nennen, wie zum Beispiel religiöse Doktrinen. Eine immaterielle Macht ist auch die der Quadratwurzeln, deren strenges Gesetz die Jahrhunderte und nicht nur die Dekrete Stalins, sondern selbst die des Papstes überlebt hat. Und zu diesen Mächten würde ich auch die der literarischen Überlieferung rechnen, soll heißen: die der Gesamtheit von Texten, welche die Menschheit nicht zu praktischen Zwecken (wie um Register zu führen, Gesetze und wissenschaftliche Formeln zu kommentieren, Sitzungen zu protokollieren oder Fahrpläne aufzustellen), sondern gratia sui, um ihrer selbst willen hervorgebracht hat und weiter hervorbringt - und die man zum Vergnügen, zur geistigen Erhebung, zur Erweiterung der Kenntnisse oder auch bloß zum Zeitvertreib liest, ohne daß einen irgendwer dazu zwingt (wenn man einmal von den schulischen Zwängen absieht).
Es stimmt zwar, daß die literarischen Objekte nur zur Hälfte immateriell sind, da sie sich in Vehikeln verkörpern, die gewöhnlich aus Papier bestehen. Aber einst verkörperten sie sich in der Stimme dessen, der eine mündliche Überlieferung weitergab, oder in Stein gemeißelt, und heute diskutieren wir über die Zukunft der e-books, die uns erlauben sollen, sowohl eine Sammlung von Witzen wie auch die Göttliche Komödie auf einem Bildschirm aus Flüssigkristallen zu lesen. Ich will gleich klarstellen, daß ich hier nicht die Absicht habe, mich mit der vexata quaestio des elektronischen Buches zu beschäftigen. Ich gehöre naturgemäß zu denen, die es vorziehen, einen Roman oder ein Gedicht in einem Band aus papierenen Seiten zu lesen, von denen ich sogar noch die Eselsohren und die zerknitterten Stellen in Erinnerung behalte, aber wie ich höre, gibt es eine digitale Generation von Hackern, die in ihrem Leben noch nie ein Buch gelesen haben und nun durch das e-book zum ersten Mal in die Nähe und den Genuß des Don Quijote gekommen sind. Soviel Gewinn für ihren Geist, soviel Verlust für ihre Augen. Wenn es den künftigen Generationen gelingt, ein gutes Verhältnis (psychisch und physisch) zum e-book zu entwickeln, wird sich an der Macht des Don Quijote nichts ändern.
Wozu dient das immaterielle Gut, das die Literatur darstellt? Es würde
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