Die Schuld einer Mutter
dreht sich auf dem Absatz um, und dann treffen sich unsere Blicke.
Für eine lange Sekunde stiert sie mir böse ins Gesicht, und ich kann sehen, wie ihr die Beschimpfungen einfallen. Aber alle Blicke im Raum sind auf sie gerichtet. Als sie das bemerkt, eilt sie hinaus.
Als sie verschwunden ist, sehe ich, dass der Blick der Metzgersfrau auf mir ruht. Sie nickt knapp und verschwindet im hinteren Teil des Ladens.
Fünf Minuten später steige ich wieder ins Auto und werfe Joe die Pute auf den Schoß. »Gut festhalten«, sage ich, und dann drehe ich mich zu den Kindern um. Sam sitzt in der Mitte mit geröteten, vor Kälte schuppigen Wangen, Sally sitzt rechts, James links von ihm. Sie platzen beinahe vor Aufregung und können gar nicht schnell genug nach Hause kommen.
»Eben habe ich Alexa gesehen«, sagt Joe. »Sie sah nicht gerade glücklich aus.«
»Das ist sie auch nicht«, sage ich und lege den Sicherheitsgurt an. »Sie wurde nicht bedient. Die haben sie rausgeschmissen und ihr gesagt, sie solle woanders einkaufen.«
Joe fängt unbändig zu kichern an.
»Was ist denn?«, frage ich.
»Nichts«, antwortete er, grinst aber breit.
Als ich den Gang einlegen will, beugt er sich hinunter und fährt mit der Hand durch das wuschelige Fell auf Blueys Kopf. Seit Joe am Mittwoch aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sind die beiden unzertrennlich.
Ich werfe einen Blick in den Seitenspiegel und fahre los, und genau in dem Moment fängt es zu schneien an.
Ich werfe Joe einen Seitenblick zu.
Glauben Sie mir, er wird mich noch vor dem Ende dieser Woche überzeugt haben, den verdammten Hund am Fußende unseres Betts schlafen zu lassen.
Anmerkung der Autorin
Die Idee zu diesem Buch kam mir, nachdem ich eine Ausgabe der Oprah-Winfrey-Show gesehen hatte. Bei Oprah geht es immer wieder um die Frage, wie man Leben und Arbeit ins Gleichgewicht bringt, und nachdem ich es in meiner physiotherapeutischen Praxis jahrelang mit erschöpften berufstätigen Müttern zu tun hatte, kannte ich mich mit dem Thema bestens aus.
In der Sendung wurde die Schulsekretärin Brenda Slaby vorgestellt. Brenda hatte zwei ihrer Kinder um sechs Uhr morgens zu den jeweiligen Tagesmüttern gebracht, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Es ist der erste Tag nach den Sommerferien, der für sie immer besonders anstrengend wird. Acht Stunden später stürmt eine Kollegin in Brendas Büro, um ihr zu sagen, ihr kleines Baby liege immer noch im Auto. Brenda hatte so viel im Kopf gehabt, dass sie vergessen hatte, ihr jüngstes Kind abzugeben. Die kleine Cecilia starb in der heißen Augustsonne an einem Hitzschlag.
Die Geschichte dieser Frau erschütterte mich zutiefst. Seinerzeit beschrieb Brenda sich als die meistgehasste Frau in ganz Amerika. Sie erhielt Morddrohungen, und empörte Mütter wollten sie wegen Mordes vor Gericht stellen.
Ich sah die Sendung und dachte nur eins: Das hätte auch mir passieren können.
Auch ich war eine Zeitlang völlig überfordert damit gewesen, Kindererziehung und Vollzeitarbeit unter einen Hut zu bekommen. So überfordert, dass auch ich den einen Menschen aus dem Blick hätte verlieren können, der meine Liebe und meinen Schutz am meisten brauchte.
Der Fall ging mir nicht mehr aus dem Kopf, aber ich war mir nicht sicher, ob ich darüber schreiben könnte. Ich schreibe Thriller. Ich wusste, ich würde Brenda und ihrer Geschichte niemals gerecht werden.
Die Zeit verging, und ich konnte nicht aufhören, über jene Frauen nachzudenken, die sich zu viel abverlangen. Die sich dazu antreiben, perfekte Mütter und perfekte Angestellte zu sein, auf Kosten ihrer Gesundheit und ihrer Beziehungen. Und andere Frauen, die weniger gut funktionieren, werden von ihnen kleingeredet.
Ein paar Wochen später fuhr ich zum Supermarkt und traf auf dem Parkplatz eine Bekannte, die ich eine ganze Weile nicht gesehen hatte. Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, schämte ich mich für mein Leben, denn sie war eine jener Frauen, die andere Frauen und deren Kinder auf subtile Weise schlechtmachen, sobald sie nur den Hauch einer Chance dazu bekommen. Ich saß in meinem Auto und fragte mich, wer mit so einer Frau befreundet sein will. Denn Freundinnen hatte sie zweifellos. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand sich freiwillig mit ihr zusammentun würde.
Und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was, wenn man ausgerechnet ihr Kind aus den Augen verlieren würde? Wenn man so überfordert wäre mit der Arbeit
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