Die schwarze Hostie
1
Irgendetwas stimmte nicht. Sie hätte ihn nicht sehen dürfen. Für Menschen war er unsichtbar. Tiere und andere Wesen aus den Parallelwelten, die Menschen normalerweise ignorieren, konnten ihn wahrnehmen. Aber nicht sie.
Sekunden später musste er sich seinen Irrtum eingestehen.
„Sind Sie ein Freund meines Onkels?“, sprach sie ihn an.
Langsam wandte er sich zu ihr um. Noch während sein Körper diese Bewegung vollführte, sorgte er dafür, auch für die übrigen Menschen sichtbar zu werden. Es hätte seltsam gewirkt, hätte sie ihre Worte ins Leere gerichtet.
„Nein, nicht direkt. Eher ein entfernter Bekannter“, versuchte er, ihrer Frage auszuweichen. Dabei bedachte er sie mit einem Lächeln, das darauf ausgelegt war, ihre Aufmerksamkeit auf andere, erfreulichere Dinge zu lenken. Er kannte seine Wirkung auf Menschen, insbesondere Frauen. In welchem Zeitalter er sich auch bewegte, er erfüllte immer die gängigen Vorstellungen von äußerer Schönheit. Was weitgehend daran lag, dass er eine leere Leinwand war, auf die die Menschen ihre Vorstellungen projizieren konnten.
In diesem Fall allerdings schien die Taktik nicht zu wirken. Anstatt sein Lächeln zu erwidern, bedachte sie ihn mit einem Stirnrunzeln.
„Wie heißt du?“, ging sie zu der vertrauteren Anrede über, nachdem sie sein Gesicht gesehen und ihn auf etwa ihr Alter, das Anfang zwanzig sein musste, geschätzt hatte. Ganz so, wie Alexander es wollte, trotzdem war ihre Neugierde irritierend. Er beschloss, höflich zu bleiben, sie sich so schnell wie möglich vom Hals zu schaffen und dann das zu tun, weshalb er gekommen war.
„Alexander“, antwortete er kurz, um sofort mit einer angedeuteten Verbeugung den Rückzug anzutreten. „Es war mir ein Vergnügen, mit dir zu plaudern, aber jetzt muss ich leider gehen.“
„Warte“, rief sie ihm nach, aber er war schon wie Rauch zwischen den Menschen verschwunden. Dieses Mal sorgten normale Gründe dafür, dass sie ihn nicht sehen konnte. In dem Gedränge, das in dem Garten herrschte, war es ein Leichtes, ungesehen zu entkommen. Aber das Zusammentreffen hatte ihn verstört.
Es durfte nicht sein.
Wie war es ihr möglich gewesen, ihn zu sehen?
In diese Grübeleien versunken, bemerkte er nicht, wie er den Garten verließ. Er fand sich in einer Halle wieder, die die Ausmaße eines Fußballfeldes hatte. Der Fußboden war mit alten - und soweit er es beurteilen konnte -, antiken Mosaiken ausgelegt. In der Mitte des imposanten Raumes hing ein riesiger Kronleuchter. Die Wände protzten mit den Gemälden alter Meister. Sie zogen Alexander in ihren Bann. Er liebte Kunst und so ließ er es zu, dass sie ihn für einige Minuten lang in eine andere Welt entführten.
„Hier also ist der Tizian!“ Gegen seinen Willen war er beeindruckt. Madonna mit dem Kind und den Heiligen Lukas und Katharina war eines der wenigen großformatigen Gemälde des italienischen Künstlers, die sich in Privatbesitz befanden. Vor einigen Wochen hatte ein europäischer Privatsammler das Kunstwerk bei Sothebys für 12,2 Millionen Euro ersteigert. Seine Identität war bisher unbekannt.
Nur wenige Schritte entfernt hing ein Chagall. Eigentlich ein Stilbruch, aber seltsamerweise nicht störend. Dem Chagall folgte ein Rubens, dann ein Dali, danach Klimt. Diese chaotische Anordnung der Werke war … interessant. Sogar mehr als das ... faszinierend.
Aber das war nicht wichtig. Mit einem Schulterzucken wandte er sich von der Ausstellung ab. Halder mochte ein begnadeter Kunstkenner sein, ein Genie, wenn es darum ging, seine Sammlung zu präsentieren. All das aber verblasste hinter seinem anderen Talent: der Planung des perfekten Mordes. Perfekt nach den Maßstäben der Menschen, denn die Tat war bisher ungesühnt geblieben. Niemand ahnte etwas von dem dunklen Geheimnis des Bankers.
Alexander war hier, um den Blutpreis einzufordern. Halder würde sterben.
Heute. Am Abend des Sommernachtsfestes, das Torsten Halder alljährlich veranstaltete. Die Crème de la Crème der Hamburger Gesellschaft und einige handverlesene Prominente waren die Glücklichen, die an diesem Ereignis teilnehmen durften. Alexander war nicht eingeladen, aber das war auch nicht notwendig, konnte er doch überall erscheinen. Einer der Vorteile, die ein Ifrit genoss. Wenn nötig, konnte er wie Rauch verschwinden und an einem anderen Ort wieder auftauchen. Unsichtbar … Warum aber hatte sie ihn entdeckt?
Ohne es zu wollen, schweiften seine Gedanken zu ihr ab. Sariel
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