Die schwarzen Raender der Glut
eine leichte Verbeugung an, einmal zum Autor hin, dann zum Festredner –, Freiheit sei es also auch, den Fernsehapparat abzuschalten, was redet der da, denkt Franziska, wenn das keine Binse ist, was ist es dann?
Der Autor hat das Lächeln eingestellt, langsam verblasst die Röte, vielleicht suckelt er mit der Zunge an der Gebissplatte, ob sie denn auch wirklich festsitze, der Festredner ergreift das Wort oder vielmehr das Weinglas und nimmt einen tiefen
Schluck Rotwein. Dem Wort nähert er sich eher zögernd, als sei es ein fluchtbereites Wesen und entziehe sich dem Zugriff blitzartig und gewandt wie eine Seeforelle, Franziska hat ihren Block aus der Jackentasche geholt und versucht mitzuschreiben, der Festredner redet von den Verhältnissen und Bedingungen des Gewissens, die nicht verfügbar seien, sich nicht zur Fertigung von Moralkeulen eigneten. Worauf will nun das hinaus? Der Festredner nimmt einen zweiten tiefen Schluck. In den Fragen der Nation und des Gewissens gebe es Dinge, fährt er fort, die könnten zu dieser Zeit so nur über die Deutschen gesagt werden, noch immer nur über sie, plötzlich sind die Worte nicht mehr wie Seeforellen, sondern nur noch schlüpfrig und aalglatt, dann ist das Glas ausgetrunken, beflissen nähert sich eine Mini-Berockte mit der Flasche.
Was tu ich hier?
Der Mann verlässt die Apotheke und tritt auf die Gasse hinaus, die zur Plöck führt, die Jacke noch immer über dem Arm. Der schmale Gehsteig liegt im Schatten, die Tabletten hat er in einer der Jackentaschen verstaut. Er holt sie immer hier, weil der Apotheker ein ruhiger älterer Mann ist, der ihm die Packung bringt und nichts weiter dazu sagt, nichts darüber, wie man sie nehmen müsse, und auch nichts über den schönen Tag und dass die Sonne scheint, und der ihn vor allem nicht ansieht, nicht mit diesem forschenden Blick, und auch nicht mit dem mitleidigen, der noch schlimmer ist.
Der Mann will zur Plöck, aber dort steht eine Gruppe junger Männer, glatzköpfig und in Springerstiefeln, und verteilt Flugblätter, er mag sich von ihnen nicht ansprechen lassen. Widerstrebend wendet er sich zur Hauptstraße. Vielleicht sollte er besser gleich eine der Tabletten nehmen, aber dazu bräuchte er einen Schluck Wasser. Er hätte den Apotheker darum bitten können, aber dann hätte ihn der angesehen wie jemanden, der es wirklich braucht. Soll er in ein Café gehen? Es ist Mittagszeit, vermutlich sind die Cafés voll und er würde keinen Tisch für sich allein bekommen.
Dann fällt ihm das Kaufhaus am Bismarckplatz ein. Dort hat es Toiletten, und er kann die Tablette mit einem Schluck aus dem Wasserhahn herunterspülen. Er biegt in die Hauptstraße ein, aber dort ist ein so dichtes Gedränge, dass er immer wieder anderen Leuten ausweichen muss, vor allem Touristen, die ihm in ganzen Trupps entgegenschlendern, als ob es niemanden gäbe, der vielleicht arbeiten muss oder sonst einen wichtigen Grund hat, unterwegs zu sein. Junge Mädchen auf Rollschuhen, die wie Schlittschuhe aussehen, schießen an ihm vorbei, sie tragen knapp sitzende kurze Hemdchen, die den Bauchnabel frei lassen, er versteht nicht, warum die Eltern das erlauben, und gefährlich sind diese Rollschuhe auch, im öffentlichen Verkehrsraum darf das doch gar nicht zugelassen sein. Etwas unterhalb der Providenzkirche sind Leute stehen geblieben und bilden einen Kreis, manchmal spielen russische Geiger dort oder Indios, Bettelmusikanten eben, aber diesmal hört er keine Musik.
Der Mann schiebt sich an dem Kreis der Zuschauer vorbei, dann fällt sein Blick auf eine weiße lebensgroße stumme Marionette, auch das Gesicht kalkweiß, eine Puppe, und die Puppe verharrt bewegungslos, wie lange schon?, um plötzlich in einer abgezirkelten und ruckartigen Geste einen Arm zu bewegen oder besser: zu verschieben, der Arm schlägt hoch, als ob ein Mechanismus eingerastet sei, und die Hand richtet sich auf den Mann und zittert dabei ein klein wenig wie der Sekundenzeiger einer Bahnhofsuhr, wenn er auf die volle Minute vorrückt und kurz verharrt. Der Mann schüttelt den Kopf, was hatte dieses Ding auf ihn zu zeigen, auf einmal sieht er, dass die Marionette nackt ist, am ganzen Körper nackt, und nur weiß geschminkt. Nein, sagt der Mann, vielleicht schreit er es auch, und rennt los, mit schweren plumpen Schritten, er stößt eine Frau zur Seite, die ihn verschreckt oder eher höhnisch ansieht, rennt die Hauptstraße hinab, die Touristen weichen ihm aus, der Mann rennt
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