Die Seele der Nacht
dem blutigen Verband. »Was ist dir zugestoßen?« Sie steckte den Stab in ihre Schärpe und trat zu Céredas hinüber.
»Vor zwei Nächten wurde ich angegriffen«, sagte er und zog eine Grimasse. Im Stehen schmerzte sein Bein fast unerträglich, und da er fürchtete, gleich würde es wieder schwarz vor seinen Augen werden, ließ er sich auf ein Moospolster sinken. Das Mädchen setzte sich ihm gegenüber. Einige Augenblicke schwiegen beide und sahen auf den schmierigen Verband hinab, durch den an zwei Stellen gelbliche Flüssigkeit sickerte.
»Das ist nicht gut«, sagte das Blauschopfmädchen nach einer Weile. »Du solltest den Verband wechseln.«
Céredas nickte. »Ich weiß, das allein wird aber nicht genügen. Kennst du dich in der Heilkunde aus?«, fragte er voller Hoffnung.
Tahâma schüttelte den Kopf, rückte aber trotzdem noch ein Stück näher und löste den verklebten Stoffstreifen. Sie sah auf die tiefe Wunde, die von Eiter verklebt war und sich an den Rändern schwärzlich verfärbte. »Ich könnte deine Verletzung mit Kristallwasser säubern«, schlug sie vor und nahm ihr Bündel vom Rücken. Die Verletzung erinnerte sie an die qualvollen letzten Stunden ihres Vaters. War auch dieser Körper vergiftet? Würde sie schon wieder an einem Sterbelager wachen müssen? »Was war es, das dich verletzt hat?« Sie benetzte ein Tuch mit dem klaren Wasser und tupfte vorsichtig den gelben Schleim von der Wunde. Leise begann sie eine Tonfolge zu summen.
»Ein Wolf«, antwortete Céredas, »ein ungewöhnlich großer und kräftiger Wolf«, fügte er hinzu, so als wäre es ihm peinlich, von einem normalen Wolf verletzt worden zu sein.
»Das ist nicht ganz korrekt«, erklang eine schnarrende Stimme aus dem Gebüsch neben ihnen. Es folgte ein knarzendes Lachen. Die beiden fuhren herum, konnten jedoch niemanden entdecken.
»Es war kein ungewöhnlich großer Wolf, es war ein gewöhnlich großer Werwolf«, fuhr die Stimme fort. »Und um noch genauer zu sein, es war der Werwolf Gmork.« Die dichten Zweige des Mondbeerenbuschs zu ihrer Linken rauschten, und eine kleine, dürre Gestalt trat auf die Lichtung. Das Wesen war etwa zwei Fuß groß, mit dünnen Ärmchen und Beinen, die eher Wurzeln ähnelten, und einem tonnenförmigen Leib, der in einen groben Kittel von grünlicher Farbe gehüllt war. Das zerfurchte Gesicht war von erdigem Braun, auf dem Kopf trug es einen topfförmigen Rindenhut, auf dem eine gebogene grüne Feder steckte. »Wurgluck«, sagte das Männchen, zog den Hut und verneigte sich. »Ich wünsche den Reisenden einen glücklichen Tag.« Er setzte den Rindenhut wieder auf und tippelte mit eiligen Schritten auf das gegenüberliegende Gebüsch zu.
»Halt, halt!« Tahâma sprang auf und stellte sich ihm in den Weg. »Wer bist du?«, fragte sie und sah das Männchen mit großen Augen an.
»Wurgluck«, wiederholte es vorwurfsvoll und wandte sich nach links, um an dem Blauschopfmädchen vorbeizukommen. »Das habe ich doch schon gesagt. Ihr müsst den Leuten zuhören!«
»Und was bist du?«, fragte Tahâma.
Das Männchen blieb stehen und wandte sich ihr zu. Es schien nach Luft zu schnappen. Dann sagte es: »Ich bin ein Erdgnom. Ist das nicht klar und deutlich zu sehen?«
Sie ließ sich auf die Knie sinken und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Entschuldige, Wurgluck, ich habe bisher noch keinen Erdgnom getroffen. Ich heiße Tahâma und bin vom Volk der Tashan Gonar.«
»Ein Blauschopf, ja, ich weiß.« Wurgluck nickte und schüttelte feierlich ihren Mittelfinger. »Erst kürzlich ist eine ganze Schar durch unseren Wald gezogen. Und wer ist der?« Er wandte sich zu dem jungen Mann um.
»Céredas kin Lahim«, stellte dieser sich vor und verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln.
»Ja, das tut weh.« Wieder nickte der Erdgnom. »Wenn man da nicht mit den richtigen Kräutern Bescheid weiß, dann kann so eine Wunde zum Tod führen, ehe es dreimal Abend geworden ist. Vor allem jetzt, da Rubus wieder zunimmt.« Er tippte sich an den Hut und wollte seinen Weg fortsetzen, doch wieder stellte sich ihm Tahâma in den Weg.
»Ich bin keine Heilkundige, und auch Céredas weiß nicht, wie man eine derart tiefe Verletzung behandelt. Kennst du nicht jemanden hier in eurem Wald, der ihm helfen kann?«
Wurgluck hielt inne, sah zu Tahâma auf und runzelte die ohnehin schon zerfurchte Stirn. Ein verschmitztes Lächeln huschte über seine dünnen Lippen. »Wenn ich so richtig darüber nachdenke, dann wüsste ich schon
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