Sommer der Entscheidung
1. KAPITEL
S ie gab es auf. Egal, was sie noch täte, ihre Großmutter würde doch nicht aufmachen. Tessa MacRae fand sich damit ab, den Rest des drückend schwülen Vormittags auf der Veranda vor dem Haus zu verbringen, die immerhin ein wenig Schatten versprach. Aber die Zeit, die sie tatenlos herumsaß, war nicht völlig verschwendet. Von der quietschenden alten Schaukel aus konnte sie einen Eindruck von dem Leben ihrer Großmutter gewinnen. Zwar war die Gegend als besonders prachtvoll bekannt, doch diese kleine Ecke des Shenandoah Valley konnte damit nicht gemeint sein.
Tessas Überlegungen wurden von dem Knarzen eines Fensters unterbrochen, das genau über ihrem Kopf geöffnet wurde.
„Bist du immer noch hier, Fräulein? Ich habe dich nicht eingeladen, und das hier brauche ich auch nicht!“
Tessa war siebenunddreißig Jahre alt und unterrichtete Englisch an der Highschool. Schon seit einigen Jahren war sie kein „Fräulein“ mehr, aber dies schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um Einwände zu erheben. Auf Helen Henrys Tirade folgte ein Rascheln, und plötzlich war die Luft nicht mit dringend benötigtem Regen, sondern mit zerknülltem Papier erfüllt, das über das Blechdach auf die Erde fiel. Tessa versuchte, die Papierknäuel zu zählen. Ein Dutzend, mindestens. Und nach einer theatralischen Pause folgte noch mal ein halbes Dutzend.
Mit einem Knall wurde das Fenster über dem Vordach wieder zugeschlagen.
Als Tessa sicher war, dass der Hagelsturm aus Papier vorbei war, stand sie auf, um eines der Blätter zu betrachten, das ihr vor die Füße gefallen waren. Sie faltete das Knäuel auseinanderund glättete es. Zwei Frauen und ein Mann waren darauf abgebildet, die sie mit breitem Grinsen und unnatürlich grauen Haaren von einem Golfplatz anstarrten. „‚Green Springs – das Domizil für den Lebensabend‘“, las sie laut. „‚Weil heute der erste Tag vom Rest Ihres Lebens ist.‘“ Während sie die Broschüre in ihrer Hand wieder zerknitterte, überlegte sie, wie viele weitere Faltblätter ihre Mutter Helen in den letzten Wochen zugeschickt haben mochte. Ohne dass noch mehr vom Himmel fiel, kehrte Tessa auf die Schaukel zurück, zog die Knie an, stützte ihr Kinn darauf und fuhr mit ihrer Inspektion der Umgebung fort.
Auf dem Weg in die Kleinstadt Toms Brook war Tessa wie immer von der großartigen blaugrünen Bergkette verzaubert gewesen, von den Sommerastern und der Wilden Zichorie, die am Wegesrand blühten, und von den gemütlichen Kühen und Pferden, die in der Hitze Virginias auf den hügeligen Weiden grasten. Aber das war nur ein Panorama, ein ländliches Stillleben. Etwas völlig anderes war die Farm ihrer Großmutter, die von der unerbittlichen Sonne geröstet wurde. Die Dürre, die die ganze Region heimgesucht hatte, war hier besonders schlimm. Bis zum vierten Juli in wenigen Tagen würde der Mais nicht kniehoch stehen, wie es die Bauernregel verlangte. Vielmehr sahen die Maispflanzen, die auf einem einige Hektar großen Feld gegenüber dem Haus standen, aus wie Bonsai, die sich schief und kümmerlich unter der Sonne wanden. Nur der Löwenzahn hielt sich noch recht wacker. Falls die Gegend nicht bald mit Regen gesegnet wurde, und zwar ordentlich, würde es in diesem Jahr keine Maisernte geben.
Und dann diese Hitze. Virginia gehörte eigentlich nicht zu den bekannten Sommeroasen, aber Tessa, die hier geboren und aufgewachsen war, konnte sich nicht daran erinnern, dass es im Juli jemals so heiß gewesen war. Während sie daraufwartete, dass Helen ihre Meinung änderte, leerte Tessa mehrere Flaschen mit Quellwasser, und vermutlich hatte sie ebenso viel wieder ausgeschwitzt. Kein Lüftchen regte sich, keine Biene summte. Die Schwalben, die sich unter der Dachrinne eine Festung gebaut hatten, hatten ihre Zugbrücke hochgezogen und sich in das kühle Innere der Burg zurückgezogen. Sogar die Eichelhäher hatten sich mit den Krähen auf einen Waffenstillstand geeinigt und hielten wahrscheinlich Seite an Seite ein Mittagsschläfchen in den Ästen von Helens Ahorn.
Das Fenster knarzte erneut. „Und wenn du schon mal dabei bist, nimm das hier auch gleich mit!“, rief Helen. „Glaubst du, ich brauche deine schicken Geschenke?“
Ein Morgenmantel flog hinter einem Nachthemd her. Beides hatte Tessa ihrer Großmutter zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt.
Nun landete es auf der Kletterrose, die unkontrolliert an einem Spalier und am Verandageländer entlangrankte, und die sanften
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