Die Seele des Ozeans
gesehen?“ Die Erkenntnis sickerte wie Eiswasser in ihren Magen. Ihre Knie wurden weich. „Dann habe ich es mir nicht eingebildet?“
„Was?“
„Dass er seltsam aussah?“
„Seltsam? Du meinst silberne Haare, weiße Haut und türkisfarbene Augen? Ja, zum Geier, das habe ich gesehen. Wer oder was war das?“
Was war das?
Fae schluckte. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, rannte sie zur Terrasse hinaus, sprang die Treppe hinunter, umrundete das Haus und sprintete zum Strand. Alexander und Henry standen am Saum der Brandung, hielten etwas in den Händen und starrten wie vom Donner gerührt auf das Wasser.
„Was ist los?“ Atemlos blieb sie neben den beiden stehen und hielt sich die schmerzenden Seiten. „Wo ist er? Was ist passiert?“
Alexander hielt seine Hose in der Hand, Henry sein Hemd. Beide würdigten sie keines Blickes und fixierten mit gerunzelter Stirn die Wellen. Das Wasser war an diesem Tag besonders klar. Fast kristallen. Unter dem hellgrünen Spiegel schillerten Sonnenlichtnetze über dem gewellten Sand.
„Der Kerl ist einfach reingesprungen.“ Alexander stieß ein konfuses Tssss aus. „Hat sich die Kleider vom Leib gerissen und war weg. Siehst du ihn irgendwo? Er muss doch wieder auftauchen.“
„Schau dir das an.“ Henry hielt Fae anklagend sein zerfetztes Hemd unter die Nase. „Das ist völlig ruiniert. Total hinüber.“
„Er ist ins Wasser gesprungen?“
„Ja. Splitterfasernackt. Und ehe wir zweimal blinzeln konnten, sah man nichts mehr von ihm. Seht euch das an. Er taucht nicht wieder auf. Das kann doch nicht sein. Wo ist er hin?“ Alexander fuhr zu ihr herum und packte ihre Schultern. „Wer war das? Was wollte der Kerl von dir? Ist das ein Verrückter? Ein Spanner?“
„Nein, er …“
Die Worte entfielen ihr. Sie wusste keine Antwort darauf. Im Nachhinein erschien es ihr wie ein Traum. Wie eine Vision ihres durchdrehenden Geistes. Die Lippen aufeinandergepresst, sah sie auf das Wasser hinaus. Sonnenlicht tanzte auf seiner ruhigen Oberfläche, glänzte und flirrte und spielte mit ihren Sinnen.
Nein, unmöglich. Aber was wäre, wenn …
Ihre Gedanken gingen auf Reisen. Kjells seltsame Gestalt war keine Einbildung ihres kranken Gehirns gewesen. All das Fremdartige, das sie auf ihren Tumor geschoben hatte, war auch Ukulele aufgefallen. Sie dachte an das helle Etwas in der Tiefe, das sie letzte Nacht gesehen hatte. An die Arme, die sich unter Wasser um sie geschlossen hatten. An ihren Retter, der sie vor den Felsen beschützt hatte.
Und an diese Augen. Hell wie Türkiskristall. Durchsetzt mit silbernen Sprenkeln.
„Ich weiß es nicht.“ Plötzlich entkam ein Lachen ihrer Kehle. Sie warf den Kopf zurück und ließ es frei. Ungehemmt und losgelöst. „Ich habe keine Ahnung. Ist das nicht irre?“
„Was zum Geier ist hier los?“, knurrte Alexander. „Erklär mir das!“
„Ich kann es nicht erklären.“
„Wer war das?“
„Keine Ahnung.“
„Fae, er war in unserem Haus. Bei dir. Als du allein warst.“
Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. „Genauso war es.“
Alexander ließ sie los und wandte sich wieder dem Meer zu. „Verdammt! Dieser Typ taucht wirklich nicht mehr auf. Was ist er? Ein Fisch?“
Fae gluckste. Vielleicht war Kjell so steifbeinig gelaufen, weil er es nicht gewöhnt war, Beine zu haben. „Entschuldigt mich, ihr beiden. Ich habe zu tun.“
„Was hast du zu tun?“
Sie rannte über den Sand zurück zum Haus. Über die Schulter rief sie ihrem Bruder zu: „Schreiben. Endlich wieder schreiben.“
~ Gegenwart, August 2052 ~
Kjell schlug das Buch zu und grinste. Ja, das war seine Mutter. Inspiriert zu den unmöglichsten Zeitpunkten und absolut konsequent, wenn es um den Gehorsam gegenüber der Muse ging.
Sie hatte also nicht nur ihn nach einer Buchfigur benannt, sondern auch ihren eigenen Namen und Bruchstücke ihres Lebens in dem Roman verwoben. Sogar Henry und Ukulele waren Spielbälle ihrer Fantasie geworden. Genauso wie in dieser Geschichte hatte er sich die beiden vorgestellt. Zwei verschrobene, absonderliche Kerle, die das Duo aus Alexander und Fae vervollkommneten.
Kjell schob seine Zehen unter der Bettdecke hervor und wackelte damit herum. Ein netter Gedanke, sich in einen halben Fisch zu verwandeln. Das wäre die Antwort auf seine drängendste Sehnsucht. So oft er auch im Tauchanzug oder im Bauch eines U-Boots in die Welt unter Wasser eingedrungen war, war es doch nie vollkommen gewesen. Nie war er zu einem
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