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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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    Oberinspektor Chen Cao vom Shanghaier Polizeipräsidium lauschte einem Vortrag beim Schriftstellerverband, der ihn abwechselnd zum Stirnrunzeln und zum Nicken veranlasste.
    »Das Rätsel China – worin besteht es?
    Wir erinnern uns an die Aussage unseres früheren Premierministers, dass er 99 Särge für korrupte Kader bereithält – und einen für sich selbst. Was wollte er damit sagen? Der Kampf gegen die Korruption ist gefährlich, aber er war bereit, sich dieser Herausforderung mit allen Konsequenzen zu stellen. Seinerzeit hat man ihm für seine Entschlossenheit applaudiert. Zweifellos hat der Premier sein Bestes getan und ist unbeschadet in den verdienten Ruhestand gegangen, aber die Korruption hat sich seither weiter verschlimmert. Heute, so sagen die Leute, würden 99 Särge längst nicht mehr ausreichen.
    Ein anderes politisches Schlagwort ist das vom Sozialismus chinesischer Prägung, ein Begriff, unter dem sich sämtliche Merkwürdigkeiten dieser Gesellschaft zusammenfassen lassen. Unser Land ist, glaubt man den Parteiorganen, sozialistisch oder gar kommunistisch, in Wirklichkeit aber herrscht Kapitalismus, eine primitive Günstlingswirtschaft, die durch und durch materialistisch geprägt ist. Man könnte ebenso gut von Feudalismus sprechen, wenn man bedenkt, dass die Kinder privilegierter Kader – die Prinzlinge unserer Gesellschaft – automatisch selbst zu hohen Kadern werden, ›glaubwürdige rote‹ Thronfolger im Einparteiensystem.
    Auch wenn uns die Propagandamaschinerie der Partei etwas anderes einbleut, so wissen wir doch, dass die chinesische Gesellschaft moralisch, ideologisch und ethisch am Ende ist, dennoch trommelt sie weiter wie das Häschen im Werbespot.«
    Chen klopfte seine Hosentaschen nach einem Päckchen Zigaretten ab, besann sich dann aber. Dies war einer jener heiklen und gerade noch geduldeten Vorträge. Der Redner, ein bekannter Gelehrter namens Yao Ji, war Jurist an der Shanghaier Akademie für Sozialwissenschaften. Yao galt zwar nicht als Dissident, aber als einer jener potenziellen Unruhestifter, die mit unverhohlener Kritik die Probleme der heutigen Gesellschaft anprangerten. Er hatte einige streitlustige Artikel veröffentlicht, und was nicht gedruckt werden durfte, stellte er auf mehreren Blogs ins Netz. Der hagere, kantige Mann stand leicht vorgebeugt auf dem Podium und unterstrich seine Worte mit lebhaften Gesten. Seine Geheimratsecken schimmerten im Licht, das durch die bunten Glasfenster drang und ihn wie einen Heiligenschein umgab.
    Chen wusste so manches über Yao, der auf einer polizeiinternen schwarzen Liste stand. Doch ihm konnte das momentan egal sein, sagte sich Chen, während er die Brille mit den bernsteinfarbenen Gläsern zurechtrückte und die französische Baskenmütze in die Stirn zog. Er hoffte, hier nicht als Polizist erkannt zu werden, auch wenn einige der Mitglieder im Schriftstellerverband von seinem Beruf wussten. Er sann über das Wort Enigma, Rätsel, nach. Es weckte in ihm die Erinnerung an ein Gemälde, das er jedoch nicht in allen Einzelheiten vor Augen hatte. Professor Yao führte derweil eine Fülle konkreter Beispiele an, um seine Behauptung zu belegen.
    »Worin besteht denn diese vielbeschworene chinesische Prägung? Diesbezüglich gibt es unzählige Auslegungen und Definitionen, hier nur einige Beispiele, die für sich sprechen. Ein Professor an der Peking-Universität sagte unlängst zu seinen Studenten: ›Wenn ihr nicht vorhabt, mit vierzig vierhundert Millionen auf der hohen Kante zu haben, seid ihr bei mir an der falschen Adresse.‹ Dieser Professor hat sich auf den Immobiliensektor spezialisiert und spricht sich für hohe Immobilienpreise aus; als Gegenleistung erhält er Geld von den Bauunternehmern. Für ihn und seine Studenten zählt in dieser Welt des roten Staubes nur bares Geld.
    In einer Fernsehshow, in der die Teilnehmer über die Kriterien bei der Partnerwahl diskutierten, gab eine junge Frau folgende Stellungnahme ab: ›Lieber in einem BMW weinen, als auf dem Fahrrad lachen.‹ Die Botschaft ist unmissverständlich. Sie wird sich allemal für einen Ehemann entscheiden, der ihr materiellen Luxus garantiert, Liebe ist dabei zweitrangig. Bei einem kürzlich geahndeten Fall von Alkohol am Steuer schrie der Fahrer die Polizisten an: ›Zhang Gang ist mein Vater.‹ Dieser Zhang Gang ist ein hoher Parteikader, dem die örtliche Polizeibehörde unterstellt ist. Natürlich zögerten die Ordnungshüter, den Sohn zu belangen. Ein

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