Das Geheimnis Der Pilgerin: Historischer Roman
W o ist die Herrin Aliénor?«
Der Prinz trat auf den Wehrgang vor den Kemenaten und wandte sich an eines der unzähligen jungen Mädchen, die den Hof seiner Mutter bevölkerten. Dieses hier mochte höchstens elf oder zwölf Sommer zählen, aber es sah schon mit dem charakteristischen Blick zwischen kindlicher Scheu und weiblicher Koketterie, der den Zöglingen des Minnehofes eigen war, zu ihm auf. Richard fragte sich, ob die Mädchen ihn vor den venezianischen Spiegeln übten, die Eleonore von Aquitanien ihren Lieblingen zu schenken pflegte. Aber so gekünstelt dieser Augenaufschlag auch sein mochte - Richard konnte sich seiner Wirkung nicht entziehen, zumal das Mädchen wunderschöne Augen hatte. Augen von ungeheuer klarem Blau, als spiegle sich der Sommerhimmel Aquitaniens in einem der tiefsten Seen der Berge. Und sein kastanienfarbenes Haar ... wie ein Strom bahnte es sich seinen Weg über die noch knochigen, schmalen Schultern. Das Gesicht war kindlich rund, aber die ausgeprägten Wangenknochen und die hohe Stirn ließen erkennen, dass Richard eine künftige Schönheit vor sich hatte.
»Im Rosengarten, Herr«, antwortete das Mädchen mit heller, singender Stimme. »Soll ich Euch zu ihr führen?«
Richard lächelte. »Ich könnte mir keine schönere Begleiterin vorstellen«, sagte er galant und gab der Versuchung nach, die Kleine ein wenig zu necken. »Aber gibt es womöglich einen Ritter, den ich damit vor den Kopf stoße? Eine Schönheit wie Ihr hat doch sicher unzählige Verehrer?«
Das Mädchen errötete und lächelte schüchtern. »Dafür bin ich doch noch viel zu jung, Herr ...«
Der Prinz zog die Augenbrauen hoch. »So manche Prinzessin wird früher vermählt. Aber es macht mich glücklich, dass Ihr mir Hoffnung macht. So würdet Ihr meine Werbung annehmen, wenn sie zu angemessener Zeit erfolgte?«
Das Mädchen wirkte jetzt etwas verwirrt, auf seiner glatten Stirn zeigte sich eine steile Falte. Aber dann erkannte es die Schmeichelei als Scherz und ging darauf ein, wie es das zweifellos gelernt hatte. »Selbstverständlich, mein Prinz, wenn Ihr nur auf mich wartet.« Die Kleine knickste.
Richard lächelte wieder. »So ist es beschlossen«, meinte er. »Aber Ihr müsst mir Söhne schenken ...«
»Zahlreich wie die Sterne am Himmel«, erklärte das Mädchen ernsthaft, aber dann zwinkerte es ihm zu. »Müssen wir den Bund nicht mit einem Kuss besiegeln?«
Die Kleine war entzückend. Richard beugte sich zu ihr hinab und küsste sie leicht auf die Stirn.
»Wie heißt Ihr denn, meine versprochene Gattin?«, fragte er dann, immer noch lächelnd.
»Richard?« Eleonore von Aquitanien stieg die Treppe zum Wehrgang hinauf. »Wo bleibst du denn? Ich warte auf dich. Schwere Entscheidungen stehen an, und du kokettierst hier mit den Mädchen! Noch dazu halben Kindern!« Sie wandte sich an die Kleine. »Hast du keinen Unterricht, Gerlin von Falkenberg? Geschwind zu deinen Lehrern!«
Eleonores Lächeln nahm ihren Worten die Schärfe. Die Königin liebte ihre Zöglinge, vor allem die schönen und klugen, die einmal genauso geschickte Politikerinnen zu werden versprachen wie sie.
Nichtsdestotrotz knickste das Mädchen sowohl vor seiner Ziehmutter als auch vor Richard Plantagenet und floh dann in die Frauengemächer. Allerdings gezielt in eine Kemenate, die Ausguck in die Gärten des Hofes bot. Die kleine Gerlin verschlang den schönen Prinzen mit ihren Augen.
So also fühlte es sich an, verliebt zu sein.
D ER K USS DES F RÜHLINGS
Burg Falkenberg, Oberpfalz -
Lauenstein, Oberfranken
März bis September 1192
Kapitel 1
G erlin von Falkenberg betrachtete ihr Gesicht im Spiegel des träge dahinfließenden Flusses, der sich unterhalb des Anwesens ihres Vaters durch die liebliche Landschaft schlängelte. Sie war nicht sehr zufrieden mit ihrem Anblick. Die nachlässig geflochtenen Zöpfe und das einfache Leinenkleid hätten auch einer Hausmagd gehören können - die Herrin Aliénor hätte sie für diese Aufmachung streng gerügt. Aber andererseits war der Hof von Aquitanien weit weg, und Gerlin war nicht gerade zu einem Fest unterwegs.
Sie hatte die Wäscherinnen am Fluss beaufsichtigt, nachdem sie die Küche inspiziert und dem Koch die Entnahme eines Schinkens aus der Speisekammer genehmigt hatte. Die Schlüssel zu den Wirtschaftsräumen klapperten an ihrem Gürtel - auch etwas, das weit unter der Würde der Herrin Aliénor gewesen wäre. Aber die englische Königin war auf der Insel Oléron nicht Herrin
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