Die Seelenjägerin - 1
so lange lebte wie ein Magister. Nach allzu vielen Jahrhunderten wurden die Wände zwischen den Erinnerungen dünn und bekamen leicht Risse, sodass die Gedanken ineinanderflossen.
Manchmal war das gefährlich.
Er sog die kalte, würzige Luft tief in seine Lungen, riss sich von der Vergangenheit los und widmete sich der Gegenwart. »Du hast gesagt, es wäre wichtig, Sula. Es gibt nicht viele Brüder, von denen ich mich quer durch die halbe Welt hetzen ließe, aber du hast bisher meine Zeit noch nie verschwendet, und so will ich dir ausnahmsweise vertrauen.«
»Das ehrt mich sehr, mein Lehrer.«
Er wehrte die Anrede mit knapper Geste ab. »Ich bin nicht mehr dein Lehrer.«
Der Jüngere nahm den Widerspruch achselzuckend zur Kenntnis, ohne ihn gelten zu lassen. Er war einer der wenigen Schüler, die Colivar jemals angenommen hatte, und er hatte die Tradition, wonach ein Magister mit seiner Entlassung aus der Lehre zum Rivalen, nicht zum Verbündeten seines Lehrers zu werden hatte, nie so ganz verinnerlicht. Colivar hielt ihn meist auf Abstand, um ihn an seine Rolle zu erinnern, aber er konnte nicht abstreiten, dass so viel Loyalität einen gewissen … Reiz hatte. Derartige Gefühle überlebten nur selten die Translatio, und so gut wie nie die Begegnung mit der Magisterpolitik unmittelbar danach. Sula war eine Ausnahme.
Die Politik der Unsterblichen , dachte Colivar. Wenn man die ersten Jahrhunderte überlebt hatte, bekam man Mitleid mit den alten Göttern, die sich angeblich wie ein Stall voller verwöhnter Kinder gezankt, verschworen und gegenseitig betrogen hatten. Warum sollte ein gewöhnlicher Mensch besser sein als sie? Irgendwann kam die Zeit, da waren alle Geliebten verstorben, man hatte längst keine Familie mehr, und auch die ehrgeizigsten Pläne waren nach kurzer Blütezeit im Abgrund des Vergessens versunken. Dann blieben nur noch Männer, die ebenso mächtig, ebenso unsterblich und ebenso gelangweilt waren wie man selbst.
Wäre ein anderer als Colivar Sulas Lehrer gewesen, er hätte dessen Loyalität als Schwäche betrachtet und sie in seinen ersten Jahrhunderten schamlos ausgenützt, um ihn dann zu verstoßen. Doch Colivar dachte weniger destruktiv und fand es in Maßen erheiternd, dass sein idealistischer junger Schützling so lange überlebt hatte, ohne seinen Optimismus zu verlieren. Ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen – von jeher ein beliebtes Magisterspiel – wäre ein schlechter Lohn für eine so außergewöhnliche Leistung gewesen.
»Du wolltest, dass ich mir einen Jungen ansehe?«
Sula nickte. Er war blond und hellhäutig wie ein Nordländer, hager und von hohem Wuchs, aber viel kräftiger und geschickter, als man es den Magistern gemeinhin zutraute. Natürlich konnte er sein Aussehen nach Belieben verändern, seit ihm die Macht des Athra zur Verfügung stand, aber er blieb lieber so, wie ihn die Natur geschaffen hatte. Ein weiteres Zeichen seiner Eitelkeit.
»Er lebt in dem Dorf da unten«, sagte er und nickte zu der Siedlung hin. »Es ist einfacher, dich zu ihm zu bringen, als ihn hierherzuholen.«
»Meinetwegen«, nickte Colivar. »Geh voran.«
Er stellte fest, dass Sula kein Schwarz trug. Es wäre hier auch überflüssig gewesen. Der kalte Nordwind stellte den Körper der Morati auf eine harte Probe; nur wer sich wie Colivar und sein Schüler mit Seelenkräften wärmen konnte, wagte sich mit nur einer einzigen Schicht Kleidung ins Freie. Sulas schlichte Tracht verkündete seine Größe und seine Macht ebenso deutlich wie das Schwarz eines Magisters.
Dennoch war es … befremdlich.
Die Häuser waren über das ganze Tal verstreut. Sula führte ihn zu einem größeren Gebäude und klopfte an die Tür. Ein Mann ging gerade vorüber und schaute auf. Als er sah, woher das Geräusch kam, verneigte er sich so hastig, dass er fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre.
Wie schnell sie bereit sind , dachte Colivar spöttisch, gerade denen ihren Respekt zu erweisen, die sie auszehren.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet, und eine rotwangige Frau spähte heraus. Sie hielt einen Schöpflöffel in der Hand, und man sah ihr an, dass sie ihre Arbeit nur ungern unterbrach. »Ja, was gibt es …?« Dann begriff sie, wer – und was – da vor ihr stand. »Oh …« Sie holte rasch Atem. »Vergebt mir, edler Herr, ich wusste nicht, dass Ihr es seid. Und auch noch mit einem Magister. Ich bitte Euch, tretet ein!«
Im Wohnraum verbreitete ein kleines abgedecktes Feuer
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