Die Seelenjägerin - 1
gelegen war.
Er warf einen Blick auf den Platz mit den Speeren und spähte in die Schatten, als wollte er sich vergewissern, dass sich dort niemand versteckt hielt. Machte er sich wirklich so große Sorgen, belauscht zu werden, oder waren seine Nachrichten so unerfreulich, dass er zögerte, sie zu überbringen? Für Gwynofar war beides gleich beunruhigend, sie fürchtete das Schlimmste, während sie schweigend darauf wartete, dass er zur Sache käme.
Endlich seufzte er tief auf und stellte einen Fuß auf eine Bank aus weißem Marmor. »Offen gestanden habe ich Angst, du wirst mich für verrückt erklären, wenn ich dir erzähle, was mir im Kopf herumgeht.«
Ihr Lächeln verriet die unerschütterliche Nachsicht jeder Mutter. »Niemals, mein Sohn.«
»Oder du wirst mir vorwerfen, ich könnte nicht erwarten, den Thron zu besteigen. Ich suchte nur nach Schwierigkeiten im Hause Aurelius, um den Machtwechsel herbeizuführen.«
Sie bewahrte ihr mütterliches Lächeln. »Nein, Rurick. Dazu kenne ich dich zu gut.« Tatsächlich traute sie ihm durchaus zu, dass er den Thron begehrte und vielleicht sogar davon träumte, ihn vor der Zeit zu besteigen – welchem ehrgeizigen jungen Prinzen wären solche Wünsche fremd? –, aber Rurick war kein Ränkeschmied, und er würde schon deshalb keine Verschwörung anzetteln, um seinen Vater zu stürzen, weil er wusste, dass Danton ihm unweigerlich auf die Schliche käme.
Gwynofar trat zu der Bank, setzte sich ans andere Ende und umfasste mit beiden Händen seine Hand. Es war eine große Hand, schwer und rau wie die seines Vaters, aber sie erwiderte ihren Druck mit einer Wärme, die ihr ans Herz griff. Vor langer Zeit waren auch die Berührungen ihres Gatten von solcher Zärtlichkeit gewesen. Doch jetzt beherrschte die Nacht, in der er in ihr Schlafzimmer eingedrungen war, ihre Erinnerungen. Bei diesem Besuch hatte sie ihn ganz anders erlebt.
»Hier kannst du deinem Herzen freien Lauf lassen«, versicherte sie ihrem Sohn. »Ich werde dich weder verurteilen, noch ohne deine ausdrückliche Zustimmung jemandem weitererzählen, was du gesagt hast. Das gelobe ich bei den Göttern, die über diesen Ort wachen.«
Er nickte grimmig und drückte ihre Hand noch fester. Rurick war nicht der redegewandteste ihrer Söhne, und sie spürte, wie schwer es ihm jetzt fiel, die richtigen Worte zu finden. Sie drängte ihn nicht, sondern ließ ihm so viel Zeit, wie er brauchte.
»Es hat sich etwas verändert«, sagte er endlich. »Es ist – sogar die Luft ist irgendwie nicht mehr die gleiche. Ungesund.« Verärgert über die eigene Schwerfälligkeit, schüttelte er den Kopf. »Auch Vater verändert sich. Und nicht zum Besseren. Was ihm einst Freude machte, reizt ihn nicht mehr. Die politischen Manöver, die ihn ehedem befriedigten, provozieren ihn jetzt nur zur Grausamkeit. Seine Ungeduld – sie wird immer schlimmer, seine Launen richten sich gegen seine Söhne, seine Minister, gegen alle, die um ihn sind. Und er wird von Tag zu Tag mehr zum Einzelgänger, schließt sich stundenlang mit diesem verfluchten Magister « – er stieß den Titel hasserfüllt hervor – »in seinen Gemächern ein, während seine Höflinge tuscheln, er verfalle zunehmend dem Wahnsinn, und sich fragen, wohin er das Reich noch führen wird. Solche Gerüchte können einen Herrscher ins Verderben stürzen, Mutter. Du weißt das. Doch er nimmt sie überhaupt nicht wahr. Und das sieht meinem Vater gar nicht ähnlich.«
Nein , dachte sie, ihr Gemahl war sogar überaus empfänglich für Stimmungen aller Art. Manchmal kam es ihr vor, als hörte er jedes Wort, das im Schloss gesprochen wurde, und wüsste bei jeder Klatschgeschichte, die die Runde machte, aus welcher Quelle sie stammte. Dass er auf dergleichen nicht mehr achtete, war nur ein weiteres Zeichen dafür, wie schlimm es um ihn stand.
»Wie soll ich als Erstgeborener mich nun verhalten?«, fragte Rurick. »Soll ich den Großkönig gewähren lassen, auch wenn dadurch das Reich verloren geht? Soll ich mich neben ihn stellen und versuchen, ihm seinen Wahnwitz begreiflich zu machen, in der Hoffnung, dass er auf mich hört?« Ein kurzes, bitteres Lachen. »Du weißt, wie er das aufnehmen würde, Mutter. ›Geier und Sohn eines Geiers‹, hat er mich einmal genannt. Er würde von mir sicherlich keinen Rat annehmen, auch wenn ich wüsste, was ich ihm raten sollte. Und vielleicht hätte er sogar recht.« Wieder sah er sich um, ob ihn auch niemand belauschte. Dann sagte er
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