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Die Seherin von Garmisch

Titel: Die Seherin von Garmisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Schueller
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die Augen trug,
erschien ihr neben dem allem als Kleinigkeit. Selbst die beiden Piercings in
der Augenbraue konnte sie besser ertragen als die feindselige Wortkargheit, mit
der er sie traktierte.
    »Severin?«, sprach sie ihn vorsichtig an.
    »Was«, antwortete er nur, ohne sie anzusehen.
    »Der Bua, der mit dir Musi macht, wie hoaßtn der? Der
Nette.«
    Severin sah sie misstrauisch an. »Warum?«
    »Nur so …« Sie sah ihn nicht an, sondern griff nach
der Dose mit den Pausenbroten. »Mir is nur kommen, dass i dem sein Namen gar
ned kenn.«
    »Weiß ned, wenst meinst.«
    »Der mit dene rötliche, dünne Haar. Mit dem nettn
Gsicht, dem rundn.«
    »Spacko«, sagte Severin und trank seinen Kaffee aus.
    »Spacko? Des is doch koa Name!«
    »So heißt er bei uns.« Severin griff nach der
Plastikdose und steckte sie ohne Dank in seine Umhängetasche.
    »Und wie heißt der wirklich?«
    »Wann di jemand beim Namen nennt, dann heißt halt so.
Und wannst einen Namen hast, bei dem di keiner nennt, dann heißt ned so.
Deshalb heißt er wirklich Spacko.«
    Er schloss seine Tasche. Dann streifte er die
Rucksacktasche mit seiner Bassgitarre über.
    »Hab Prob nach der Schul«, sagte er und ging aus der
Stube.
    Johanna hörte die Haustür lautstark zufallen. Sie
stützte die Stirn in die Hände und schloss die Augen.
    Sie dachte nach. Dachte an »Spacko«, wie er verrenkt
dalag auf dem schlammigen Boden des Parkplatzes. Sah das vom Blitzen der Waffe
erhellte Gesicht des Mannes, seine ungerührten Züge, als er dem Sterben des
Jungen zusah.
    Sie ging hinüber ins Wohnzimmer zu dem alten,
weinroten Tastentelefon und griff nach dem Telefonbuch, das darunterlag.
Zögernd blätterte sie darin. Wen konnte sie fragen nach »Spacko«?
    Sie kannte kaum einen der Buben mit Nachnamen. Sie
entschied sich für Frau Schreier, die Mutter von Inga, einem Mädchen, mit dem
Severin bis vor einiger Zeit gemeinsam Hausaufgaben gemacht hatte. Jedenfalls
hatten die beiden das behauptet. In den letzten Monaten hatte Inga sich
allerdings nicht mehr sehen lassen.
    »Griaß Gott, Frau Schreier, die Kindel Johanna hier.«
    Frau Schreier klang überrascht, als sie ihren Namen
hörte.
    »I hob nur a Frag, Frau Schreier. Unser Severin, der
hat an Freind, so an kloana, an bisserl an gwamperter, mit am freindlichn
Gsicht. Die Buam hoaßen eam Spacko. Kennens den vielleicht mitm vollen Nam?«
    »Da fragen Sie mich was …« Frau Schreier dachte nach.
»Die geben sich ja alle so komische Namen, heut … Ich glaub ich weiß, wen Sie
meinen. Inga hat ihn mal Oliver genannt, wenn ich mich recht erinnere. Den
Nachnamen weiß ich aber auch nicht.«
    Frau Schreier versprach, Inga zu fragen, wenn sie aus
der Schule kam; dann erkundigte sie sich noch, warum Severin sich nicht mehr
bei ihnen blicken ließ, und seufzte verstehend, als Johanna ihr die Frage
zurückgab.
    »Kinder halt«, sagte Frau Schreier noch, bevor sie
auflegte.
    Johanna wählte eine zweite Nummer, die des
Sekretariats des Werdenfels-Gymnasiums. Die Sekretärin war freundlich und
entgegenkommend, aber sie bat um Verständnis, dass sie bei tausendeinhundert
Schülern nicht jeden Oliver kennen könne. Dann meinte sie sich aber zu
erinnern, dass vor einem Jahr ein Oliver Speck nach der zehnten Klasse
abgegangen war. Und das war, wie sie in vertraulichem Ton hinzufügte,
eigentlich schon mehr, als sie am Telefon erzählen durfte.
    Johanna bedankte sich und blätterte weiter im
Telefonbuch. Es gab nur einen Eintrag unter dem Namen »Speck«, und dort meldete
sich niemand.
    Müde legte sie den Hörer auf und setzte sich wieder an
den Tisch. Der Adler zeigte ihr Bilder, Szenen, aber nie wusste sie, wann das, was sie er sie sehen ließ, passierte.
    Er hatte ihr das Sterben von Menschen gezeigt, die
schon Wochen tot waren. Aber ein-, zweimal auch das von solchen, die ihr tags
drauf auf der Straße begegneten.
    Es war schlimm. Jedes Mal. Meistens waren es ja Alte,
Greise oder Schwerkranke. Aber einmal war es ein Kind gewesen, das sie gar
nicht kannte. Der Adler hatte ihr gezeigt, wie es vor einen Lastwagen lief. Und
wenig später, sie saß im Zug nach Mittenwald, er war gerade angefahren, da sah
sie das Kind an der Hand seiner Mutter den Bahnsteig entlanggehen. Fröhlich
hüpfend.
    Es waren diese Momente, die sie den Adler verfluchen
ließen. Aber ihre Flüche beeindruckten den Adler so wenig wie ihre Gebete. Tag
für Tag hatte sie in der Kirche gekniet, jahrelang, hatte gebetet, dass er sie
in Ruhe lassen, jemand

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