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Die Seherin von Garmisch

Titel: Die Seherin von Garmisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Schueller
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EINS
    Der Adler, der ihre Sinne bis über die Wolken
trägt, schenkt ihr noch einen Blick auf den makellosen Sternenhimmel, dann
stürzt er sich hinab. Er durchstößt den dichten, nassen Schleier, lässt sie die
Lichter der Stadt sehen, und die Schwärze der Berge. Dorthin, ins Schwarz, in
die Dunkelheit trägt er sie.
    Je näher sie dem Schwarz dort kommen, um so mehr
löst es sich in Grau auf. Konturen bilden sich, Schemen gewinnen Form. Wald
kann sie erkennen, ein Reh, unbewegt im Gebüsch, eine Rotte Wildschweine, die
ihre Spur zwischen die Bäume pflügt.
    Und einen Menschen.
    Er ist jung, ein Kind noch fast, hockt auf dem
Boden einer Mulde, die Arme um den Körper geschlungen. Vor Kälte – oder vor
Furcht?
    Der Adler kreist über ihm, bevor er sanft im Wipfel
einer hohen Kiefer landet. Er lässt sie ins Rund sehen. Sie erkennt den Ort,
eine Schotterstraße, einen Holzlagerplatz, sie weiß: Hier war sie schon, aber
sie kann sich an den Namen des Ortes nicht erinnern.
    Dann zeigt der Adler ihr den Mann mit der Waffe.
    Er steht versteckt hinter den Bäumen am Rand des
Platzes auf der anderen Seite der Straße, fast unsichtbar in seiner dunklen
Jacke.
    Jetzt hört sie etwas. Ein Fahrzeug nähert sich aus
dem Tal. Bald darauf rollt ein schwarzes Motorrad auf den schlammigen
Parkplatz. Es hält mit laufendem Motor. Der Fahrer, unkenntlich unter Helm und
Schutzbrille, streift einen schwarzen Rucksack vom Rücken ab und stellt ihn auf
den Boden.
    Dann fährt er wieder an, dreht eine ruhige Kurve
und rollt zurück auf die Straße. Er fährt weiter den Berg hinauf.
    Das Motorrad ist noch nicht außer Hörweite, als der
Junge aus der Senke kriecht und eine kleine Taschenlampe anschaltet, in deren
Schein er die Straße zum Parkplatz hin überquert. Der Adler zeigt ihr sein
Gesicht, und sie erschrickt. Sie kennt den Jungen. Nicht beim Namen, aber sie
weiß, wer er ist; sie hat ihm schon gegenübergestanden, in ihrer eigenen Stube.
    Der Junge nähert sich dem Rucksack. Sie will ihm
eine Warnung zuschreien, aber der Adler erlaubt es nicht, das tut er nie. Er
zeigt ihr nur den Mann, der sich lautlos aus der anderen Richtung dem Rucksack
nähert – und das dunkle Metall seiner Hand.
    Der Junge kann ihn nicht hören und in der Schwärze
der Nacht erst sehen, als ihn der Lichtkegel der Taschenlampe trifft. Und da
ist es zu spät. Dem Jungen entfährt ein erschreckter Schrei. Die Waffe in der
Hand des Mannes stößt Feuer aus, zweimal, und noch einmal.
    Sie ringt um Atem, hat das Gefühl zu ersticken an
ihrer Stummheit. Der Adler stößt sich sanft von dem Ast ab, auf dem er geruht
hat. Lautlos, mit ausgebreiteten Schwingen gleitet er über das Geschehen hin.
Dann fliegt er davon. Steigt hinauf, immer höher, in die Wolken, erreicht sie,
steigt weiter in die feuchte, blinde Watte.
    Und dort lässt er sie fallen.
    Johanna Kindel wachte schlagartig auf. Keuchend und um
Atem ringend tastete sie nach der Nachttischlampe und setzte sich auf. Die Luft
kam kalt durch das kleine, auf Kipp stehende Fenster, hinter dem schwarze Nacht
herrschte, aber ihr Nachthemd war klamm und feucht von Schweiß. Sie begann zu
zittern, doch es war nicht die Kälte. Sie zitterte vor Angst.
    Von der Tür her ein flüsterndes Rufen.
    »Großmama?«
    »Es is nix, Danni«, antwortete sie.
    »Aber warum hast geschrien?«
    Johanna stand auf. Sie streifte ihre Pantoffeln über
und öffnete die Tür.
    Daniela sah zu ihr auf mit der ganzen Besorgnis, zu
der ein zehnjähriges Mädchen fähig war. Johanna beugte sich zu ihr hinab und
nahm sie in den Arm.
    »Hast geträumt?«, fragte Danni.
    Johanna nickte und zog die Nase hoch.
    »War’s einer von dene Träum?«, fragte die
Kleine.
    »Na«, antwortete Johanna entschieden. »Was redst da
wieder? I hob dacht, mir warn einig?«
    »Aber du hast geschrien!«
    »Es gibt solche Träum ned, hörst!«
    »Aber Tante Mariandl hat doch gesagt …«
    Danni wandte sich halb ab und versuchte, sich aus
ihrer Umarmung zu befreien.
    Johanna ließ sie los. »Da hat die Tant an Spaß gmacht,
des hab i dir schon so oft gsagt«, sagte sie sanft.
    Dannis Augen waren halb hinter ihren glatten blonden
Haaren verborgen, aber Johanna sah die Tränen darin.
    »Mach dir keine Sorgen, mei Kloans. Ois werd gut.«
    »Wirklich?«
    Johanna zwang sich zu einem Lächeln. Mit einem
entschiedenen Nicken log sie ihre Enkelin an.
    »Und jetzt gemma wieder ins Bett«, sagte sie bestimmt.
    Danni gehorchte. Johanna wartete, bis sie in ihrem
Zimmer

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