Die Seherin von Knossos
Orakelteich. Angeblich trieb sein bloßer Anblick die Frauen in seiner Sippe zum Wahnsinn - ein jaulendes Rudel von Hündinnen in Hitze, die im weißen Mondschein über die Hügel rasten. Trotz seiner Jugend schien er gealtert durch das Wissen, dass keine ihm widerstehen konnte. Ileana war wütend auf sich selbst, weil sie so empfänglich war für die physische Anziehungskraft eines Mannes, den sie verabscheute.
»Eine eigenartige Weise, mir das zu zeigen, indem du mir Wein zu trinken gibst ...« Ileana hielt inne und starrte Hreesos Welpen an. Behutsam wischte sie den Mund am Saum ihres Gewandes trocken, dann hob sie den leeren Rhyton hoch. Das Zittern in ihren Fingern mühsam unterdrückend, tastete sie den Boden des Gefäßes nach irgendwelchen Resten ab. Schließlich hob sie die Finger hoch und sah glitzernde Körner auf der Spitze kleben. »Hast du mich vergiftet?«, keuchte sie. Wo war ihr Vorkoster geblieben?
Dion lächelte.
»Sag schon!«, zischte Ileana.
Er grinste breit und antwortete nur, damit sie nicht nach den Wachen rief: »Ich würde dich bestimmt nicht vergiften, Ilea-na.« Er schnalzte mit der Zunge, ein Laut der Bestürzung.
»Nein, dein Tod will ausgekostet sein.« Er leckte sich die Finger, liebkoste mit der Zunge die Handballen. »Voller Vorfreude.« Seine Augen wurden dunkler, eindringlicher, und Ileana spürte, wie sich ihr Körper reflexartig anspannte. Er nahm ihre Hand und leckte die Handfläche ab. »Ich finde, dein Tod sollte mindestens so viel Freude bringen, wie dein Leben Leid gebracht hat.«
»Du bist entlassen«, erwiderte Ileana gepresst.
»Und von allen geteilt werden«, fuhr Dion fort, wobei seine Finger mit so winzigen Bewegungen seine Brust streichelten, dass es sie in den Händen juckte, es ihm gleichzutun, »und von allen geteilt werden, die unter dem Fluch deines Lebens leiden mussten. Wie viele haben wohl ihr Leben vor deiner Tür ablegen müssen? Brauchst du Zählschnüre, um die Übersicht zu behalten?«
»Du gehst zu weit mit deinen Beschuldigungen und Lästerungen«, fauchte Ileana.
Er sprach weiter, als hätte sie nichts gesagt. »Doch deine Tage sind gezählt. Du bist zu alt, um den nächsten Goldenen auszutragen.«
Sie erhob sich abrupt, und die Gästeschar verstummte. Dion blieb zu ihren Füßen liegen. Ileana schnippte mit den Fingern und augenblicklich wurde ihr Tragsessel gebracht. Als sie sich darin niederließ, wälzte sich Dion herum, sodass sein Gesicht auf einer Höhe mit ihren Füßen war. Er fand mit den Lippen die empfindsame Haut zwischen den Riemen ihrer Sandalen und küsste zärtlich die Innensohle ihres Fußes.
»Du stellst meine Geduld auf die Probe, Welpe.«
»Ich werde einen Schreiber bitten, dich aufzusuchen; wahrscheinlich hat dein Alter nicht nur deinem Körper, sondern auch deinem Geist zugesetzt«, meinte er traurig. »Wie ist deine Schönheit doch verblichen, wohl noch stärker als dein Verstand. Vielleicht kann der Schreiber dir bei der Liste helfen. Am einfachsten beginnen wir mit deiner Mutter, meiner Mutter, Phoebus’ Mutter, Nestors Mutter ...«
Ileana schnippte mit den Fingern, und sie wurde hinausgetragen, doch Dions Aufzählung wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Wie hatte sie um ihren Thron kämpfen müssen! Von frühester Kindheit an hatte sie gewusst, dass sie einmal Himmelskönigin würde. Sie hatte es gewollt, sie hatte es verdient. Durch einen einzigen Akt der Kühnheit hatte sie den Thron an sich gerissen. Niemand konnte ihr etwas nachweisen, auch wenn man sie im Verdacht hatte. Seither schützte sie sich durch Leibwächter, Vorkoster und strenge körperliche Zucht. Ihr ganzes Leben hatte sie ihre Stellung verteidigt. Falls die regierende Himmelskönigin während ihrer Amtszeit starb, stand es Hreesos nämlich frei, sich irgendeine unter den vielen Huren zu wählen, die er geschwängert hatte.
Er hatte keine Wahl; sie würde sich nicht umbringen lassen.
Darum hatte sie die vielen Frauen beseitigen müssen, die ihrem Gemahl Söhne geschenkt hatten.
Sie hatten ihm makellose Kinder geschenkt - Phoebus, Dion, Nestor ... dagegen hatte Ileanas exquisiter, goldener Leib Mädchen hervorgebracht. Doch auch von ihren eigenen Töchtern würde sie sich nicht vom Thron drängen lassen, so hässlich die beiden auch sein mochten. Weder von Atenis, ihrer eigenartig schweigsamen, häuslichen Erstgeborenen, noch von Irmentis, dem Kind der Nacht.
Bei ihrer Geburt war die Göttin Kela in der Zeit des Blutes gewesen, und Ileanas
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