Die Sehnsucht ist größer
ein Empfehlungsschreiben von meinem Pfarrer. Mme. Delbrel wird plötzlich sehr freundlich, bittet mich in ihr Wohnzimmer hinein, entschuldigt sich für ihr Chaos, das sei halt so, wenn man das Büro im Wohnzimmer habe. Und es sieht dort wirklich sehr interessant aus. Schließlich füllt sie den Pilgerausweis aus, strahlt, als ich angebe, aus religiösen Gründen zu pilgern. Dafür will sie mich dann aber nicht mehr ins Refugio lassen - da wären Menschen, die rauchen und trinken, das wäre nichts für einen wahren Pilger. Ich brauche viel Überzeugungskraft, um sie umzustimmen - schließlich sei ich ja allein unterwegs, und da wäre es wenigstens am Abend für mich wichtig, mit anderen Pilgern ins Gespräch zu kommen. Schließlich nickt sie gnädig ihr »Ja«, nimmt meinen Geldschein entgegen und läßt mich ziehen, um selbst einkaufen zu gehen.
Ich gehe die wenigen Meter zum Refugio hinauf, öffne vorsichtig die Tür - und finde alles so, wie es Mme. Delbrel gesagt hat: Der Schlüssel liegt auf dem angegebenen Platz und mit ihm läßt sich ein kleiner Raum aufschließen, in dem drei Stockbetten stehen. Es wirkt irgendwie klein, aber noch bin ich unsicher und zugleich voll Ehrfurcht vor dem Weg, es wird schon stimmen und passen. Und schlimmer als die Nacht im Liegewagen kann es ja wohl kaum werden.
Ich lege meinen Rucksack auf eines der unteren Betten -und atme einmal tief durch. Jetzt kann’s losgehen...
Gemütlich schlendere ich durch St.-Jean, trinke dort einen Kaffee, fotografiere da eine Katze, die ausgesprochen fotogen in einem Fenster sitzt, schaue mir die Auslagen in den Schaufenstern an - und freue mich grad daran, daß ich überhaupt nichts kaufen kann. Und es gibt schöne Sachen, bei denen ich sonst schnell schwach werde - Getöpfertes und Gewebtes. Ich ahne darum, daß Unterwegssein auch frei machen kann - sechs Wochen lang werde ich nur das mein eigen nennen können, was ich selbst auf dem Rücken tragen kann - und das wenige ist schon schwer genug. So kann ich die schöne Tonschale und die naturfarbene Wollweste diesmal gut lassen.
Von der Zitadelle habe ich einen Blick weit ins Land hinein. Irgendwie habe ich die Orientierung verloren und schaue gedankenverloren auf die Berge, die St.-Jean umgeben - über welche werde ich wohl morgen gehen?
St.- Jean, 15.00 Uhr
Das Wetter macht mir Sorgen, es zieht zu, sieht nach Gewitter aus - vielleicht treibt der Wind die Wölken ja auch wieder weg...
Während der langen Zugfahrt ist mir aufgefallen, daß ich mich im Moment noch gar nicht so richtig freuen kann. In mir ist viel Dankbarkeit, daß der Gesundheitszustand meiner Eltern es möglich macht, daß ich den Weg gehen kann, da ist Lust und Reiz und Herausforderung und Angst, da ist irgendwie Überraschung, Staunen und Gewißheit. Es ist eher so ein stilles Glücksgefühl.
Das Buch von Jean Vanier ist ganz schön. Es erinnert mich an manchen Stellen sehr an meine adventlichen Gedanken vom letzten Jahr zum Zusammenhang zwischen liebend sein und werden und der Heimatlosigkeit. Wer loslassen kann, wird frei für die Liebe - wer liebt, macht sich neu auf den Weg und bricht auf.
Jean Vanier schreibt: So viele von uns laufen vor den Menschen weg, die vor Schmerz aufschreien, die zerbrochen sind. Wir verstecken uns in einer Welt, die uns Ablenkung und Vergnügen verschafft, oder wir verschanzen uns hinter Dingen, die es noch zu erledigen gilt. Wir können uns sogar hinter verschiedenen Gebetskreisen und geistlichen Übungen verbergen, ohne auch nur zu ahnen, daß im Armen, im Schwachen, im Einsamen und im Unterdrückten ein Licht leuchtet.
Höre ich diese Schreie immer noch? Die Schreie der Menschen, die mir nahestehen, die Schreie der Menschen, die weiter weg sind? Und - höre ich meinen eigenen Schrei noch? Oder decke ich mein Schreien mit dem Schreien der anderen zu? Hört Gott mein Schreien noch, wenn ich es selbst vielleicht schon nicht mehr höre?
St.-Jean, 19.00 Uhr
In der Vesper vorhin habe ich den Psalm 130 gebetet:
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen! Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten, Herr, wer könnte bestehen? Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient. Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. Mehr als die Wächter auf den Morgen soll Israel harren auf den
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