Die Sehnsucht ist größer
Lieber Leser, liebe Leserin,
manchmal fällt der Aufbruch ein wenig leichter, wenn man das eine oder andere Wort auf den Weg »mitbekommt«. Und so möchte ich Sie, bevor Sie sozusagen in dieses Buch »aufbrechen«, gerne noch zu einigen persönlichen Worten einladen.
Im Frühsommer 1997 war ich sechs Wochen lang auf dem alten Pilgerweg nach Santiago de Compostela unterwegs - und in diesem Buch will ich versuchen, von meinen Erfahrungen auf diesem Weg zu erzählen.
»Pilgern«, das ist ein Wort, das heutzutage ein bißchen aus der Mode gekommen ist. Aber ich glaube, es ist nur das Wort, das nicht mehr so oft benutzt wird - die Menschen pilgern wie eh und jeh, wie in allen Kulturen und Religionen und zu allen Zeiten. Menschen brechen auf, machen sich auf die Suche nach dem, was Spuren von Sinn erkennen läßt, ein Ziel für das eigene Leben erahnen läßt, das erklären kann, warum das Leben so und nicht anders ist. Je nachdem, wo man das Ziel und den Sinn vermutet, mag der Weg sehr unterschiedliche Formen annehmen. Für die einen ist es der Urlaub im Süden, in den nach sinnentleerten Arbeitswochen alles an Sinn-Möglichkeiten hineinprojiziert wird, für andere ist es die Beziehung, Ehe oder Familie, die zum absoluten Lebenssinn erhoben werden, andere setzen aufs Aussteigen und den alternativen Bauernhof, manche sogar auf Rausch und Drogen und wieder andere mögen sogar einen Sinn im Leiden entdecken, weil sie sich selbst erst im Schmerz spüren. Pilgern heißt eigentlich, sich auf die Suche nach dem Sinn im eigenen Leben zu machen.
Das bedeutet auch, daß manche Lebenszeiten und Lebensphasen den Menschen eher zu einem solchen Aufbruch einladen als andere. Als Jugendlicher stellt man sich die Frage nach dem Sinn des Lebens, in der Zeit der Lebensmitte werden bisher tragende Antworten plötzlich wieder fragwürdig, Lebenskrisen erschüttern und zwingen zum Aufbruch, bestehende Ordnungen werden genommen, und man steht plötzlich vor einer Leere, die neu gefüllt sein will. Und dann macht man sich, manchmal mit Lust, manchmal aber auch eher notgedrungen, wieder einmal auf den Weg - oder setzt möglicherweise auch viel Energie ein, um den Aufbruch zu verhindern, alles so zu lassen, wie es schon immer war, alle Veränderungen zu vermeiden.
Pilgern hat etwas mit unterwegssein, mit suchen und fragen zu tun - und wenig mit angekommen sein, mit Antworten und schon gefunden haben.
Und das ist für die meisten Menschen immer noch aktuell -auch wenn es immer wieder manche geben mag, die schon fertig sind mit sich und der Welt, für die alles klar und eindeutig ist. Aber es mag sein, daß auch sie in Lebenssituationen kommen werden, in denen sie gezwungen werden, sich diesen Fragen zu stellen.
Aus meiner Sicht hat eine solche Suche immer etwas mit Gott zu tun, mag man es so sagen oder nicht, mag man Gott beim Namen nennen oder irgendeine Chiffre dafür wählen. Der, der sucht, fragt über seinen jetzigen Lebenshorizont hinaus, er will mehr, ihn treibt eine Sehnsucht auf etwas, was noch nicht ist - auch wenn er ihr keinen Namen geben kann.
Diese Sehnsucht hat dazu geführt, daß immer wieder » Pilgerwege« entstanden sind und entstehen. Es gibt neuzeitliche Varianten, wie z. B. den in die Türkei, in die Karibik oder auch nach Hamburg mit dem Besuch der entsprechenden Musicals - Orte, wo man einfach gewesen sein muß, wenn man mitreden will, Orte, von denen man sich irgendwas erhofft.
Aber es gibt auch Wege der Sehnsucht, die schon seit langem von Menschen gegangen werden, und die durch unzählig viele Schritte von Pilgern geprägt wurden. Da gab es einen Ort, ein Ziel, ein Name, dem ein besonderer Ruf vorauseilte, der die Hoffnung weckte, der Sehnsucht Raum gab. Und Menschen sind diesem Ruf gefolgt, indem sie aufbrachen, Vertrautes aufgaben, sich auf Neues einließen. Sie haben sich auf den Weg zu einem Ziel gemacht, sind diese Wege gegangen - und haben sie gerade dadurch erst zu Wegen gemacht.
Ein Weg wird zum Weg, wenn ihn Menschen gehen. Ein unbegangener Weg verwuchert, wächst zu, gerät in Vergessenheit. Ein Weg wird, wenn viele Menschen häufig von einem Ort zu einem anderen gehen. Ein einzelner, der »herumvagabundiert«, mag Fußstapfen hinterlassen, aber keinen Weg.
Und zugleich: Jeder Weg hat ein Ziel - jeder Weg führt irgendwo hin. Ich mißtraue zunehmend der Aussage: Der Weg ist das Ziel. Der Weg mag wichtig sein - aber es ist eben nicht egal, wohin ich gehe, woraufhin ich meine Schritte ausrichte.
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