Das Blut-Skelett
Jemand holte Luft.
Es war ein lautes Geräusch, das das Umblättern der Seiten übertönte. Die Hände arbeiteten schneller, und sie zitterten dabei.
Zudem steigerte sich das Atemgeräusch. Manchmal war es von einem leisen Stöhnen unterlegt, auch ein Kichern klang zwischendurch auf. Derjenige, der das Buch durchblätterte, stand wie unter Strom. Er hatte es plötzlich eilig. Blatt für Blatt flog von einer Seite auf die andere, und dann der Stillstand.
Die Person hatte ihr Ziel erreicht.
Kein Blättern mehr. Die Seite, die sie sah und auf die sie starrte, blieb offen liegen.
Noch einmal atmete die Person aus. Es hörte sich mehr an wie ein Zischen, das allmählich verklang. Ein Handrücken strich sorgfältig über das Blatt hinweg, als sollten letzte Falten geglättet werden. Vielleicht war auch nur das Motiv damit gemeint. Die aufgeschlagene Seite wies keinen Text auf. Kein einziger Buchstabe war zu sehen. Dafür ein Bild. Eine Zeichnung. Schwarze Malereien auf dem weißen, etwas vergilbten Hintergrund des Blattes.
Obwohl das Buch sein Alter hatte, war die Zeichnung nicht verschwommen oder zerkratzt. Sie hatte etwas Lebendiges an sich. Die unheimliche Gestalt stand, aber der Maler hatte sie so geschaffen, daß sie wirkte, als wäre sie auf dem Sprung, um das Blatt jeden Augenblick zu verlassen.
Es war ein besonderes Bild. Es konnte andere abstoßen, aber den Betrachter zog es an. Ein Stöhnen war zu hören. Zugleich ein Laut der Erleichterung.
Die Augen konnten sich nicht von dem Motiv lösen, das so detailliert gemalt war. Feine und sensible Künstlerhände mußten dieses Werk geschaffen haben.
Es war ein Skelett!
Jeder Knochen stimmte dort. Jeder Winkel, jede Proportion und auch jeder Knorpel.
Aber es war nicht nur irgendein Skelett. Das hier besaß einen Namen.
Es war der Schwarze Tod!
***
Man kann das Wetter im Herbst lieben, man kann es aber auch hassen. Im Moment haßte ich es. Das lag an folgenden Umständen: Erstens war es dunkel, zweitens nieselte es, und drittens lag das herabgefallene feuchte Laub dick wie ein Teppich auf der Straße, so daß ich manchmal den Eindruck bekam, über Glatteis zu fahren.
Dementsprechend vorsichtig steuerte ich den Rover und mußte mich voll konzentrieren. Einen Vorteil hatte ich trotzdem. Es war schon spät in der Nacht. Der Verkehr in diesem Teil Londons war so gut wie eingeschlafen, denn wer bewegte sich schon freiwillig in der Nähe eines Friedhofs entlang?
Suko hatte den besseren Part. Er saß neben mir und telefonierte mit dem Mann, der uns Bescheid gegeben hatte. Der Informant redete so laut, daß ich ihn sogar verstehen konnte, wenn auch nicht jedes Wort.
»Er ist noch da!«
»Gut«, bestätigte Suko. »Sehen Sie ihn denn?«
»Schwach.«
»Das ist besser als gar nichts. Andere Frage. Ist der Mann allein, oder hat er Helfer?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Warum können Sie das nicht?«
»Weil mir keine anderen aufgefallen sind. Außerdem ist es verdammt dunkel hier auf dem Friedhof.«
Suko räusperte sich. »Wenn Sie keine anderen Helfer gesehen haben, muß das nicht unbedingt heißen, daß dieser Mann nur allein gekommen ist. Ich meine, wer hebt schon gern allein mitten in der Nacht ein Grab aus? Ich möchte das jedenfalls nicht.«
»Dazu kann ich Ihnen nicht viel sagen, Sir.«
»Wie nahe sind Sie herangekommen?«
»Es geht. Nicht zu nahe. Das traue ich mich nicht. Jedenfalls ist kein Licht eingeschaltet worden. Wenn, dann öffnet er im Dunkeln das Grab. Geräusche hörte ich ja.«
»Okay, wir sind bald da. Ich schätze, es dauert noch zehn Minuten.«
»Würde mich freuen, Sir, denn ich...« Die Stimme brach plötzlich ab, und es war ein anderes Geräusch durch das Handy zu hören. Kein Schrei, kein Seufzen, sondern ein Laut, der nicht zu identifizieren war, bei Suko und mir jedoch eine gewisse Besorgnis hinterließ.
»Was ist denn?« fragte ich.
»Keine Ahnung.« Suko schaute mich erst gar nicht an, sondern sprach in das Handy hinein. Er redete schnell. Er rief den Namen des Informanten immer wieder.
»So melden Sie sich doch! Los, sagen Sie was...«
Er sagte nichts mehr. Und zwei Sekunden später war auch die Verbindung unterbrochen.
Ich hatte vor Wut geflucht, doch Suko war besser erzogen als ich. Sein Kommentar hörte sich anders an. »Es sieht nicht gut für den Mann aus. Zwar will ich nicht eben das Schlimmste befürchten, aber ich denke, wir sollten uns schon beeilen.«
»Können vor Lachen. Das riskiere ich nicht. Sieh
Weitere Kostenlose Bücher