Die Sehnsucht ist größer
die Impulse, die Begegnungen, Eindrücke von Land und Leuten für mich festhalten - auch als eine Form der Verarbeitung all der vielen Erfahrungen, die da unterwegs auf mich einströmten. Ich hatte damals schon daran gedacht, dieses Pilgertagebuch eventuell zu veröffentlichen - aber eine Entscheidung darüber wollte ich erst nach meiner Pilgerwanderung treffen. Mir war es wichtig, in diesen Tagen für mich zu schreiben - und nicht mit Blick auf eine Veröffentlichung.
Grundlage dieses Buches sind die Originaltagebücher, aber es ist nicht das Originaltagebuch. Und ganz ehrlich gesagt -nach meinem Weg nach Santiago weiß ich gar nicht mehr so richtig, ob es überhaupt »Original-Pilgertagebücher« gibt. Wenn man am Tag 25 oder gar 30 Kilometer geht, mit zehn Kilo Gepäck auf dem Rücken, bei brütender Sonnenhitze oder in peitschendem Regen, dann kann man am Abend gar nicht mehr druckreif schreiben - ganz zu schweigen davon, daß die vielen interessanten Begegnungen in den Refugios am Abend einem manchmal noch die letzten Schreibvorsätze durchkreuzen. Und so notiert man manchmal erst Stunden später, was man erlebt hat. Und damit filtert und deutet man es bereits, indem man auswählt, was man beschreibt und wie man es beschreibt - und indem das erste Nachdenken über das Erlebte schon in das Geschriebene hineinfließt.
Als ich in den Sommermonaten den »Originaltext« in den Computer übernommen habe, habe ich gemerkt, daß ich schon hie und da andere, bessere, griffigere Formulierungen genommen habe, als sie mir damals in Burgos oder Astorga eingefallen sind.
Sehr bewußt habe ich dann diese Aufzeichnungen ein halbes Jahr »ruhen« lassen.
Als schließlich die Entscheidung getroffen war, dieses Tagebuch zu veröffentlichen, stellten sich für mich drei Fragen:
1. Die Originaltagebuchaufzeichnungen sind zu umfangreich, um so veröffentlicht zu werden - und manche Passagen sind zwar für mich persönlich interessant, aber kaum für den Leser, die Leserin. Wie also dieses Tagebuch in eine lesbare Form bringen? Nach welchen Kriterien kürze ich?
2. In vielen der veröffentlichten »Pilgertagebücher« anderer Autoren und Autorinnen kann man viele Jahreszahlen und geschichtliche Gegebenheiten und Legenden um den Hl. Jakobus lesen, bei denen man relativ sicher sein kann, daß sie erst im nachhinein am Schreibtisch in den fortlaufenden Text eingefügt wurden, sicher mit der wohlwollenden Absicht, die Leser zu informieren - aber damit eben doch die Ebene des »Originaltagebuches« verlassend. Was will ich dem Originaltext hinzufügen, was muß ich hinzufügen, damit der Text auch für diejenigen verständlich bleibt, die nichts oder nur wenig vom »camino« wissen?
3. Und nicht zuletzt stehen in meinen Tagebüchern auch manche sehr persönliche Informationen und Begebenheiten, sowohl mich wie auch andere betreffend, die ich nicht veröffentlichen mag, will, kann und darf.
Nachdem einige Freunde das »Originaltagebuch« gelesen haben und wir miteinander über diese Fragen nachgedacht haben, ergaben sich einige Kriterien für die Überarbeitung des Textes.
Die durchgängige und für mich wichtigste Dimension meiner Aufzeichnungen ist die geistliche Dimension, meine Gedanken zu meinem Glauben, zu Gott, die Impulse aus Bibel, Stundenbuch und dem Buch von Jean Vanier »Heile, was zerbrochen ist«.
So bot es sich an, auch bei der Überarbeitung dieses Buches den Schwerpunkt auf das zu legen, was der »camino« für mich war - ein geistlicher Weg.
Beim näheren Hinschauen wurden, neben der durchgängigen geistlichen Dimension, bestimmte Abschnitte und damit »Überschriften« meines Weges deutlich. So war zum Beispiel auf der Strecke St.-Jean - Burgos »Grenzen überschreiten - Grenzen annehmen - Grenzen gestalten« ein wichtiges Thema für mich -oder es gab die Zeit der intensiveren Weggefährtenschaft mit anderen Pilgern. Diese verschiedenen »Etappen« habe ich als Kriterium genommen, die Tagebucheintragungen dieser Tage unter den entsprechenden Gesichtspunkten zu kürzen.
Darüber hinaus wollte ich dem Originaltext so wenig wie möglich im nachhinein hinzufügen. So mag die Rolle der Könige von Navarra für den »camino« ungeklärt bleiben, ich erzähle nicht, warum es in der Kirche von Santo Domingo zwei Hühner gibt - und welche Baustile in der Kathedrale zu Santiago zu entdecken sind. Wen es interessiert, für den gibt es genügend andere Literatur, um dies nachzulesen - und wer das Buch zur Hand nimmt, weil
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