Die Sehnsucht ist größer
Es hatte was von einem gut organisierten Verwaltungsakt in einer Behörde - aber es half grad nicht beim Ankommen.
Vor dem Pilgerbüro überlegen wir, wie man eine DIN A 4-Urkunde am besten unbeschädigt im Rucksack nach Hause bringt. Die Geschäftsleute von Santiago haben die Marktlücke erkannt - genau gegenüber gibt es ein Schreibwarengeschäft, in dem man Kartonhüllen kaufen kann.
Da treffen wir die drei Österreicher. Es gibt ein »hallo« der kleineren Art - aber immerhin erzählen sie, daß sie grad Martin in der Kathedrale getroffen hätten. Schön - er ist gut gelandet!
Christiane und ich trennen uns. Ich brauche jetzt Zeit für mich, würde gerne probieren, Martin zu finden, träume noch meinen Traum vom weichen, weißen Sweat-Shirt. Ich laufe durch die Stadt, die sich als überraschend lebendig erweist, immer wieder Fetzen von Musik, neue, schöne Blickwinkel, Menschen - aber schließlich reicht es mir. In der Altstadt entdecke ich kein Geschäft, wo ich ein Sweat-Shirt bekommen könnte, das keinen Santiago-Aufdruck hat, sondern einfach nur weiß und schlicht ist - und Martin in diesem Durcheinander zu finden, das ist eh aussichtslos. Also zurück zum Hotel, duschen, endlich umziehen. Mit Christiane hab ich mich um halb neun zum Abendessen verabredet.
Martin sitzt in aller Selbstverständlichkeit der Welt im Straßencafe vor dem Hotel, im Gespräch mit einer jungen Frau. Wir freuen uns beide - und nachdem ich mich vergewissert habe, daß ich nicht störe, setze ich mich dazu. Kurz darauf höre ich einen Schrei - und Doris stürzt auf mich zu. Sie sind vor zwei Tagen angekommen. Und als David noch auftaucht, ist die Runde fast wieder komplett. Ich bin froh um die Wegfreunde, sie bringen ein wenig Sicherheit in das Durcheinander in mir.
Mit Martin verabrede ich mich auf den gleichen Abend in der Bar, wir alle werden morgen abend miteinander essen.
Das Abendessen mit Christiane ist okay - aber Feierstimmung will in mir nicht aufkommen. Ich bin eher ein bißchen traurig. Es darf so sein - und ich bin froh, daß auch Christiane mich so lassen kann.
Die Stunden mit Martin in der Bar sind gut und vertraut. Es gibt viel zu erzählen - und wir spüren, daß uns diese Vertrautheit wichtig ist und gut tut. Unsere Begegnung war und ist ein echtes »camino-Geschenk« - und so soll es bleiben. Dieses Geschenk soll nicht entwertet werden durch das Schreiben von Pflichtbriefen. Diese Behutsamkeit erlebe ich als eine Wertschätzung der Begegnung - jeder Versuch, den anderen festzuhalten, wäre zum Scheitern verurteilt - und würde genau dieses Geschenk entwerten.
So allmählich komme ich hier in Santiago an. Ich fühle mich frei genug, hier kein Besichtigungsprogramm absolvieren zu müssen. Vorrangig ist im Moment, daß ich wieder Boden unter die Füße bekomme, ankomme, Fuß fasse, den Tritt finde. Und so kann ich auch jetzt gut zwei Stunden hier in der Bar sitzen und Tagebuch schreiben und dann Mittagsschlaf machen. Ich verpasse nichts, ich muß nichts tun - ich kann und darf lassen...
Santiago, 23.00 Uhr
Ein schöner Santiagoabend... überall in dieser Stadt ist Leben, ist Musik, ich fange an, mich in die Atmosphäre dieser Stadt ein wenig zu verlieben - und bin froh, daß wir heute morgen schon die Fahrkarten für die Heimfahrt gekauft haben, sonst wäre ich wohl wirklich in der Versuchung, hier noch einen Tag dranzuhängen.
Der Abend war sehr schön - für Doris und David war es der Abschied von Santiago, sie fahren morgen heim. Wir waren miteinander essen - fürstlich und preiswert. Martin ist dann auf Nachttour gegangen, er hat jemanden kennengelernt, der ihm das Nachtleben von Santiago zeigen will. Doris, David, Christiane und ich sind noch gemütlich durch die Stadt geschlendert. Der Vorplatz der Kathedrale war menschenleer, am Himmel wunderschöne Wolken, und David setzt sich im Schneidersitz mitten auf dem Domplatz vor die Kathedrale und nimmt Abschied. Und die Tränen waren ihm wohl ziemlich nahe. Von irgendwoher bläst ein Saxophonist das Lied »Should auld aquaintance be forgot« - »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiß ist alle Wiederkehr...« - und da wird mir nochmal ganz seltsam zumute.
Wir haben herzlich voneinander Abschied genommen -auch Doris und David waren ein camino-Geschenk.
Es war ein schöner Tag heute - ein Tag voll mit Musik, mit Melodien, mit Tönen. Ein Tag, an dem ich ein bißchen in der Stadt angekommen bin. In der Kathedrale, beim Hl. Jakobus, da werde ich wohl erst morgen
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