Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Interesse, brachte Mathys’ Haushälterin das winzige Bündel eilig herbei und schlug stolz, als sei es ihre eigene Tochter, die Tücher zurück, die das Gesichtchen umhüllten. Vorsichtig streckte Konrad den Zeigefinger aus und strich sanft über den zarten dunklen Flaum, der das winzige Köpfchen bedeckte.
Überraschend öffnete das Kind zwei große, bernsteinfarbene Augen und schenkte Konrad ein blubberndes, zahnloses Lächeln, das wie ein Dolch direkt in sein Herz fuhr. Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben verliebte sich Konrad van Bellinghoven wahrhaftig.
Teil I
1470 – 1471
1. Kapitel
M it dem Ellenbogen drückte Fygen die eiserne Türklinke herab und schob die schwere Tür zum Kontor auf, vorsichtig darauf bedacht, weder den sauren Wein zu verschütten, der gefährlich hoch den Krug füllte, noch den Teller mit Kraut und Speck fallen zu lassen.
»Hinaus!«, donnerte es ihr vom anderen Ende des Raumes entgegen.
Vor Schreck machte Fygen einen Satz zurück. Ein Speckstreifen rutschte über den Tellerrand, und das Mädchen konnte ihn gerade noch mit dem Daumen auf dem Teller festhalten. Langsam schob sie sich in den spärlich möblierten Raum hinein. In einem Regal an der Wand waren sorgfältig Geschäftsbücher aufgereiht, alle in speckiges Leder gebunden. An der gegenüberliegenden Wand stand eine geschnitzte, mit schweren Schlössern gesicherte Holztruhe. Staubkörnchen tanzten im Licht, das durch die beiden spitzen Buntglasfenster hereinfiel. In der hinteren Zimmerecke quoll die feiste Gestalt ihres Oheims hinter einem Schreibpult hervor, den runden Kopf tief über das aufgeschlagene Journal gebeugt. Der ganze Raum wirkte verstaubt, und Fygen erinnerte sich, dass Lijse gesagt hatte, hier dürfe sie nie zum Fegen hinein, der Alte hätte wohl Angst, jemand würde seine Juwelen mausen.
Fygen räusperte sich.
»Ich sagte doch …«
»Onkel Mathys, ich bringe dein Essen«, unterbrach Fygen ihn rasch und versuchte, ihrer Stimme mehr Selbstsicherheit zu geben, als sie wirklich verspürte.
»Hm«, brummte der Kaufmann, hob den Kopf und nickte mit waberndem Kinn in Richtung der Truhe. »Stell es dahin. Und dann verschwinde. Und nimm die Finger von meinem Speck.«
Fygen tat wie ihr geheißen, wandte dem Onkel den Rücken zu, beugte sich über das niedrige Möbel und stellte das Essen ab. Erleichtert, ihre Last loszuwerden, war sie schon fast wieder zur Tür hinaus, als Mathys sie noch einmal zurückrief.
»Komm mal her.« Mit einer herrischen Geste seiner fleischigen Linken winkte er das Mädchen zu sich heran.
Misstrauisch trat Fygen näher an das hölzerne Schreibpult. Es reichte fast bis zum Scheitel ihrer langen geflochtenen Zöpfe. Seit sie nach Vaters Tod in den Haushalt des Onkels gekommen war, und das lag schon ein paar Jahre zurück, hatte dieser vielleicht zweimal das Wort an sie gerichtet. Und das sicher nicht auf freundliche Weise, erinnerte Fygen sich. Damals hatte er sie oberflächlich gemustert und befunden: »Knochig, mager, unansehnlich wie ein nasser Spatz. Sie schlägt ihrer Mutter so gar nicht nach.« Und brummend hatte er hinzugefügt: »Nun, das ist vielleicht kein Schaden.« Im Übrigen hatte er das Mädchen ignoriert, was Fygen nur recht sein konnte.
Was konnte er jetzt von ihr wollen? Hatte er vielleicht eines ihrer langen dunklen Haare im Kraut entdeckt? O weh, dann konnte sie sich auf etwas gefasst machen. Zu dumm aber auch, dass ihre widerspenstigen Locken sich immer wieder aus den Bändern mogelten, mit denen Lijse sie morgens zu bändigen suchte.
Auf das Schlimmste gefasst, trat Fygen vor das Pult, die Augen starr auf die Holzplanken gesenkt, um den Oheim nicht noch zusätzlich zu reizen.
»Wie alt bist du jetzt, meine Kleine?«, fragte Mathys freundlich.
Fygen hatte vor Spannung die Luft angehalten, nun entwich diese mit einem Zischen, so dass ihre Antwort mehr wie »pfflf« als zwölf klang. Hatte sie sich verhört?
»Du hast dich ja richtig herausgemacht.« Mathys nickte und ließ wohlwollend seinen Blick über Fygens biegsame Gestalt wandern. Das Mädchen war recht schlank, nicht sehr groß gewachsen, und seine Bewegungen hatten das Eckige der Kindheit noch nicht zur Gänze abgelegt. Von der Sonne gebräunte, olivfarbene Haut spannte sich über zarte Wangenknochen, und bis auf das fast zu vorwitzige Kinn prägten ebenmäßige Züge das ovale Gesicht. Einzig der Mund mit den vollen Lippen war eine Spur zu breit geraten, um als schön zu gelten. Das
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