Tod ist nur ein Wort
1. KAPITEL
D ie Menschen mochten noch so sehr vom Frühling in Paris schwärmen, dachte Chloe Underwood, während sie mit hochgeschlagenem Mantelkragen die Straße entlangging, doch es war der Winter, der in der Stadt der Lichter einfach unvergleichlich war. Jetzt, Anfang Dezember, waren die Bäume kahl, die Luft war klar und kühl, und genug Touristen hatten die Stadt verlassen, um das Leben erträglich zu machen. Im August fragte sie sich immer, warum um alles in der Welt sie alles hinter sich gelassen hatte und dreitausend Meilen von zu Hause fortgegangen war. Aber dann kam der Winter, und sie wusste es wieder nur zu gut.
Es wäre schön, wenn sie die Stadt im August den Touristen überlassen könnte, wie es alle Franzosen taten. Doch dazu musste sie noch einen Job finden, der solchen Luxus wie bezahlten Urlaub, eine Krankenversicherung und ein Gehalt oberhalb des Existenzminimums einschloss. Sie war froh, dass sie überhaupt einen Job gefunden hatte. So wie die Dinge lagen, war ihr Aufenthalt in Frankreich nur halb legal. Insofern empfand sie an den meisten Tagen allein die Tatsache, in Paris zu sein, als großes Glück. Auch wenn sie in einem winzigen Apartment ohne Fahrstuhl wohnte, das sie dazu mit einer anderen Ausländerin teilte, die wenig Verantwortungsbewusstsein zu verspüren schien. Sylvia dachte nur selten daran, ihren Teil der Miete zu bezahlen, hatte noch nie in ihrem Leben einen Boden gewischt und hielt jedes Möbelstück und jede Ablagefläche für den passenden Ort, um ihre erstaunlich umfangreiche Garderobe auszubreiten. Andererseits hatte sie die gleiche Konfektionsgröße wie Chloe und lieh ihre Sachen gern aus. Und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, einen reichen Franzosen zu heiraten, weshalb sie die meisten Nächte außerhalb ihrer beengten Wohnung verbrachte, was Chloe mehr Bewegungsspielraum ließ.
Tatsächlich war es auch Sylvia gewesen, die Chloe ihren derzeitigen Job als Übersetzerin von Kinderbüchern verschafft hatte. Sylvia arbeitete seit zwei Jahren bei Les Frères Laurent, einem kleinen Verlagshaus, für das sie Spionagethriller und Krimis übersetzte. Sie hatte bereits mit allen drei
frères
, sämtlich im mittleren Alter, geschlafen und sich damit eine langfristige Anstellung sowie ein ordentliches Gehalt gesichert. Kinderbücher dagegen waren alles andere als ein Kassenschlager, und Chloe wurde dementsprechend bezahlt. Doch zumindest musste sie weder ihre Familie um Geld bitten noch das Treuhandvermögen angreifen, das ihre Großeltern ihr hinterlassen hatten. Nicht, dass ihre Eltern sie dazu ermutigen würden. Das Geld war für ihre Ausbildung bestimmt, und ein drittklassiger Job in Paris führte schwerlich zu einer Karriere.
Wenn Vorstellungsgespräche sie nicht völlig lähmen würden, könnte sie durchaus etwas Anspruchsvolleres finden. Nicht nur ihr Französisch war hervorragend, sie sprach auch fließend Italienisch, Spanisch und Deutsch, konnte sich auf Schwedisch und Russisch verständigen und beherrschte sogar ein paar Brocken Arabisch und Japanisch. Sie liebte Wörter, liebte sie fast so sehr wie das Kochen. Allerdings schienen ihre Talente außerhalb der Küche größer zu sein. Zumindest hatte man ihr das zu verstehen gegeben, als sie nach der Hälfte ihrer Ausbildung im berühmten “Cordon Bleu” gefeuert wurde. Zu viel Fantasie für eine Anfängerin, sagten sie. Zu wenig Respekt vor der Tradition.
Chloe war niemals sonderlich traditionsbewusst gewesen; das galt auch für ihren Beruf. Bis auf sie hatte jedes Mitglied ihrer Familie eine medizinische Ausbildung genossen. Ihre Eltern waren Internisten, ihre zwei älteren Brüder Chirurgen und ihre Schwester war Anästhesistin. Sie alle konnten noch immer nicht glauben, dass Chloe nicht darauf brannte, Medizin zu studieren. Wobei sie komplett ignorierten, dass niemandem auf der Welt beim Anblick von Blut so schnell übel wurde wie dem jüngsten Mitglied der Underwoods.
Nein, Chloe würde diesen ansehnlichen Batzen Geld so lange nicht anrühren dürfen, bis sie nachgab und ein Medizinstudium aufnahm. Und bevor sie das tat, musste ein Wunder geschehen.
Bis dahin aber zauberte sie aus Pasta und frischem Gemüse wunderbare Mahlzeiten. Da sie die meisten Wege zu Fuß zurücklegte, konnten die Kalorien nicht ansetzen – auch wenn sie eine gewisse Vorliebe für ihr Hinterteil entwickelt zu haben schienen. Mit dreiundzwanzig hatte sie selbstverständlich nicht mehr die Figur eines hoch aufgeschossenen Teenagers, und
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