Die Seidenweberin: Roman (German Edition)
Zähne fest in ihrem Kiefer saßen. Ebenso mechanisch drückte sie nun den feuchten Lappen an ihr Gesicht. Für das, was ihr Onkel um ein Haar mit ihr angestellt hätte, empfand Fygen nur Verachtung. Es traf sie weitaus weniger als seine harten Worte über ihre Mutter, seine eigene Schwester. »Eine Hure wie deine Mutter!«, hallte es in Fygen wider. Fygen verstand das ganz und gar nicht. Wieso zog er die Erinnerung an ihre Mutter in den Schmutz? Um sie, Fygen, zu verletzen?
Ihre Mutter war wenige Tage nach ihrer Geburt gestorben, und obwohl Fygen nicht viel über ihre Mutter wusste, hielt sie ihr Andenken doch in großen Ehren.
Irma musste eine schöne Frau gewesen sein, die ihrer Tochter den frischen Teint und die aufrechte Haltung vererbt hatte. Doch außerdem verdankte Fygen ihrer Mutter vor allem ihr rebellisches, unabhängiges Wesen, wie Lijse ihr schon unzählige Male vorgehalten hatte.
Ihr Vater hatte nicht oft von seiner Frau gesprochen, und Fygen vermutete, dass ihr Tod ihn sehr bekümmert hatte. Auch ihren Onkel hatte Fygen fast nie von seiner Schwester sprechen hören und hatte sich nicht vorstellen können, dass er es in solch unflätiger Weise tun könnte. Ihr Vater hätte sich ein solches Verhalten seitens seines Schwagers sicher auf das schärfste verbeten.
Ein Kloß schien in ihrer Kehle zu wachsen, als sie an ihren Vater dachte. Mit seinem Tod war auch für Fygen das Leben zu Ende gegangen.
Sie war noch sehr klein gewesen, damals. Gerade einmal sieben Jahre alt. Oft war sie zu ihm ins Kontor gekommen. Ein Kontor, das nichts gemein hatte mit dem kahlen, abweisenden Raum, in dem ihr Onkel seine Geschäfte tätigte. In Vaters Kontor herrschte eine Art Durcheinander, die den ganzen Raum warm und heimelig wirken ließ. Überall stapelten sich Papiere, auf den Fenstersimsen lagen unbrauchbare Federkiele, und das Schreibpult bog sich unter einem Stapel aufgeschlagener Geschäftsbücher. Doch ganz gleich, wie beschäftigt ihr Vater gewesen war, immer hatte er sich über ihre Besuche gefreut.
»Da ist ja mein kleiner Spatz«, hatte er gerufen und sie aufgefangen und herumgewirbelt, wenn sie sich in seine Arme stürzte. Er hatte ihr die schweren, gebundenen Journale gezeigt und lachend gesagt, sie müsse noch viel lernen, wenn aus ihr einmal eine tüchtige Kauffrau werden solle. Dann hatte er sich oft Zeit genommen, ihr das Rechnen und Buchstabieren beizubringen.
Und dann war jener verwünschte Herbst gekommen, den Fygen am liebsten für immer vergessen würde. Doch sosehr er sich auch bemühte, nichts konnte diese Erinnerung verblassen machen.
Eines Abends hatte ihr Vater viel früher als gewohnt sein Kontor verlassen, nachlässig seine hüftlange, taillierte Schecke übergeworfen, den Beutel am Gürtel befestigt und war ohne ein Wort des Abschiedes aus dem Haus gestürmt, dem Bierzapf am Marktplatz zu. Erst tags darauf hatten sie ihn nach Haus gebracht.
Fygen stieg aus dem Bett, wickelte die Decke um ihre Schultern und trat an das schmale vergitterte Fenster, durch das im Winter ein eisiger Wind hereinwehte, weil es keine gläsernen Scheiben besaß. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie über den hochgeklappten Holzladen hinweg den gewaltigen Zollturm der Stadt Zons sehen. Und wenn sie sich noch ein wenig weiter reckte, blitzte dahinter ein schmaler Streifen silbrigen Wassers im Sonnenschein auf: der Rhein. Mit bloßen Füßen stieg Fygen auf die schlichte gezimmerte Truhe, in der sie ihre Leibwäsche aufbewahrte. Doch auch so konnte sie das Haus, in dem sie mit ihrem Vater gelebt hatte, von hier aus nicht sehen. Es lag weiter im Westen der kleinen Stadt, auf der dem Fluss abgewandten Seite. Es war ein schönes Haus: das Erdgeschoss aus Stein gemauert, die Fachwerkbalken darüber schwarz geteert und das Werk dazwischen ordentlich weiß gekalkt.
Und in dem schönen Haus wohnen nun andere Leute, dachte Fygen bitter und schlang die Arme um ihre Schultern. Sie fror immer noch erbärmlich. Rasch kroch sie wieder in ihr Bett zurück, zog unter der Decke die Beine an und rollte sich zusammen, während ihre Gedanken zurückwanderten. Zurück zu jenem verhängnisvollen Tag, der ihr Leben so einschneidend, so unwiderruflich verändert hatte.
In diesem Jahr, man schrieb 1465, war der Sommer schon früh zu Ende gegangen und einem kühlen, aber trockenen Herbst gewichen. Fygen spielte allein auf der Straße vor dem Haus mit ihren tönernen, bunt glasierten Murmeln. Es war ruhig in der Gasse,
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