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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Designten wurde ausgelassener. Einer hatte aus seiner Zeichentischlade einen CD-Player geholt. Die ersten begannen sich rhythmisch zu bewegen. Eine naturblonde technische Zeichnerin, für einen Ästheten unübersehbar langbeinig, kam auf den Architekten zu.
    »Ich möchte dir persönlich sagen, wie ich mich freue.« Sie hatte keine Probleme, ihn links und rechts leicht zu umarmen. Um Gottes willen, dachte er, kein blondes Haar auf dem Revers, meine Frau erwartet unser zweites Kind und ist hysterisch genug.
    Ganz so einfach war das Abhauen des Centers nicht gegangen. Da er – als er um vier Uhr dringend Wasser lassen musste – gegen die Trockenheit noch ein Mineral und fünf Schnäpse trank, hatte er lange geschlafen. Dann hatte er sein ganzes Zeug in seine vier riesigen Sporttaschen gestopft, alles in den großen Kombi geworfen und war zum Frühstück gegangen. Dort belaberte ihn der Hoteldirektor: Welche Einkäufe Fehlkäufe gewesen seien und was bei der nächsten Vorstandssitzung des Clubs dringend zur Sprache kommen müsse und dass das Präsidium überaltert sei.
    »Und wenn sie dich nicht verlängern«, sagte der Hoteldirektor, »holen sie dich in einem Jahr wieder.«
    »Da habe ich schon aufgehört.«
    Der Center wischte sich Rührei aus dem Mundwinkel. Dann telefonierte er doch noch mit dem Klubsekretariat, erklärte, dringend wegzumüssen und ersuchte, alles über die Agentur zu regeln.
    Er wollte auch noch den weiblichen Chef de Rang grüßen lassen, aber er scheute sich vor dem Grinsen der Leute in der Portierloge, und was zu schreiben hatte er gar keine Lust.
    Eine Welle von Zärtlichkeit kam in ihm hoch. In lange nicht mehr verspürter Intensität. Die hat nie von einer Zukunft gesprochen. Die hat nie Ansprüche angemeldet. Aber sie war auch nie zynisch, hat mir nie das Gefühl gegeben, es wäre nur das Bett. Die war einfach nur – ja, ich kann es nicht anders sagen – lieb zu mir. Warum bleibe ich nicht hier?
    Entlassen?
    Warum nehme ich sie nicht mit?
    Wohin?
    Nein, Flucht ist noch das Beste. Wortlose Flucht. Jetzt saß er im Auto. Er fuhr langsam. Es hatte ein wenig geschneit. Bis zur Autobahn war Vorsicht geboten. Nach vierzehn Jahren wieder, oder besser: noch einmal Stadtlingen. Und dann? Den Center fröstelte. Er stellte die Heizung nach.
    Was erwartete ihn in Stadtlingen? Nichts als Erinnerungen. Vater hatte es nie einen gegeben. Mit der Mutter hatte er, seit sie in den Norden geheiratet hatte, nur mehr wenig Kontakt. Seiner Exfrau hatte er die kleine Wohnung überlassen, die er seiner Mutter abgekauft hatte. Es war die Fan-Artikel-Verkäuferin, die mit ihm ins erste tolle Engagement gegangen war. Aber ihr Heimweh und seine Sympathie für weibliche Fans waren zu stark geworden.
    Dann waren die großen Jahre gekommen. Spitzengagen. Einsätze in der Nationalmannschaft. Einmal eine böse Prügelei mit einem eigenen Mann. In der Kabine. Warum? Ich weiß es nicht mehr. Dann kam diese Doping-Geschichte. Es war Hustensaft. Ich habe jeden Eid schwören können. Aber dass ich nicht gewusst hätte, es wäre ein spezieller Hustensaft, kann ich nicht beschwören. Der Wechsel ins Ausland war danach kein Fehler.
    Wer oder was bin ich? Ein kinderloser, allein stehender, vernarbter, schwergewichtiger Fast-Krüppel mit abgewetzten Gelenken. Ich kann kein Eis mehr sehen, mir graut vor Hallen und Umkleidekabinen, ich speie mich an, wenn ich eine Sportseite aufschlage und dieses Geschwätz lese.
    Ich habe Geld auf dem Konto. Gutes Geld für – na ja – zehn Jahre. Was dann? Ich sterbe nicht mit siebenundvierzig. Ich muss nach dem Eishockey etwas machen. Was?
    Die Mutter war stolz, damals, als ich den Vertrag beim EC Stadtlingen unterschrieb. Studieren kann jeder, hatte sie gesagt, aber wer ist so ein Stürmertalent wie du? Nein, ich will mich nicht auf sie ausreden.
Ich
wollte Profi sein. Ich wollte durch die Stadt gehen und die Schüler mir nachreden hören.
    Er sah im Innenspiegel Wasser in seinen Augen. Da tat er sich doppelt leid. Längst war er wieder von der Autobahn herunten. Stadtlingen – 12 km, stand auf einem Schild.
    Das hatte der Architekt noch gebraucht: Die Mitteilung, im »Stadtlinger Boten« habe ein Journalist behauptet, die neue Eishalle würde wesentlich mehr kosten, als veranschlagt war. Die nach Ausschreibung betraute Baufirma sei bekannt für schamlose Nachforderungen. Das darf auf keinen Fall passieren, sagte er sich, mein erster Großauftrag muss völlig reibungslos abgewickelt werden.

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