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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Eisläufer und blöde Prügler bevölkerten das Eis der Vergangenheit. Die Abiturienten rekonstruierten mit der Ernsthaftigkeit einer Entscheidungsprüfung die Namen der Sturm- und Abwehrreihen.
    »Der Kasparek hat damals im zweiten Drittel –«
    »Der Kasparek war nie bei uns.«
    Der Center hatte Probleme. Immer wieder einmal nannte er einen Spieler, den sein Gegenüber nicht kannte. Und dann kam er drauf, er hatte Stadt oder Club oder Jahr verwechselt. Sein persönlicher Film vom Eishockey war – zumal unter Alkohol – wirr zerschnitten. Ein gigantischer Videoclip ohne Dramaturgie. Bald wollte er sich nicht mehr irren und damit blamieren, wie er befürchtete, und ließ den Architekten reden.
    Der wusste alles. Sein Hirn war das Archiv seiner sportlichen Jugend. Logisch, sagte er zu sich selbst, ich habe nur die Zeit, in der ich als Jugendspieler auf der Tribüne saß und mich in den Kasten der
Ersten
träumte. Ich kann alle Mannschaftsaufstellungen auswendig, bei denen ich dabei sein wollte. Und dann kam diese eine Saison, dieses eine Jahr Leben. Ich erinnere mich an jedes Tor, das ich bekommen habe. Ich weiß von jedem unhaltbaren Schuss, was geschehen hätte müssen, um ihn haltbar zu machen. Ich kann die Fluglinien des Pucks nachzeichnen. Exakt.
    Der Architekt erzählte mit der Begeisterung eines dennoch gescheiten Sportreporters.
    Irgendwann war das Thema Eishockey durch.
    Die Zungen wurden schwerer. Die Hirne klarer. Die Gespräche tiefer.
    Jetzt ging es um die Platzierung in der Liga Leben. Jetzt ging es um die Existenzen.
    Der Architekt verbat sich die Bemerkung, er hätte es geschafft. Ein vermanagtes, korrumpiertes, magenkrankes Arschloch sei er, möglicherweise kurz vor dem Scheitern einer Ehe, mit der Aussicht, um die Zeiten streiten zu müssen, in denen er seine Kinder sehen könne.
    »Du hast Kinder«, sagte der Center. »Du hast eine Frau. Ich habe keine Kinder. Ich habe Serviererinnen. Und du hast Kohle.«
    »Wenn ich arbeite wie ein Tier. Wenn ich so ziemlich alles nehme, was kommt. Le Corbusier bin ich keiner geworden und werde auch keiner mehr.«
    »Wer bist du nicht geworden?«
    »Corbusier. Ein großer Architekt.«
    »Bin ich vielleicht Wayne Gretzky?« Der Center wurde beinahe laut. »Im nächsten Jahr pfeifen die mich aus, die mich heute gefeiert haben. Und in fünf Jahren frag ich dich, ob du einen Chauffeur brauchst.«
    »Red nicht so einen Blödsinn! Du hast dir doch was erspart! Du kannst doch was anfangen mit deinem Geld!«
    »Möchtest du mir sagen, was? Vielleicht ein Bauherrenmodell, damit ich es
ganz
rasch los bin?« Sie wurden immer betrunkener.
    Der eine versicherte dem anderen, der größte Fehler seines Lebens sei gewesen, nicht Eishockeyprofi geworden zu sein. Der andere schwor bei seinen Bandscheiben, niemals mehr diese Entscheidung zu treffen, hätte er eine zweite Chance.
    Die Ausweglosigkeit, der Kreisgang ihrer Argumentationen begann sie zu amüsieren.
    »Also, was ist: Tauschen wir?«, fragte der Architekt.
    »Du hast die Schlusssirene überhört«, kam die fachmännische Auskunft.
    Die Bowling-Runde war gegangen. Der Wirt setzte sich ohne zu fragen auf einen dritten Stuhl und redete über Eishockey. Keiner hörte ihm zu. Sie entwarfen im Rausch die Bilder des Lebens, das ihnen entgangen war. Der eine sah sich ins All-Star-Team der NHL gewählt, der andere als Gymnasialprofessor für Turnen und Geschichte und gleichzeitig als Vorstand des Elternbeirates.
    Gegen vier Uhr morgens merkte der Wirt endlich, dass das Schweigen der beiden nicht Zuhören bedeutete. Er regte das Heimgehen an. Zu zahlen war selbstverständlich nichts.
    Der Architekt und der Center traten in die späte, eiskalte Winternacht. Ihre Mäntel trugen sie über dem Arm. Sie spürten die Kälte nicht.
    »Ich glaube, es war zu viel«, sagte verlegen lachend der Center und kotzte Pillen und Leberwürste hinter das Auto. Diesen Anblick ertrug der Magen des Architekten nicht reaktionslos. Er kotzte daneben.
    Sie waren etwa zugleich fertig, sahen erst einander und dann ihre Kotze an.
    »Tauschen wir?«, fragte der Architekt.
    Sie kriegten sich nicht ein mehr vor Lachen.

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