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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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einem Detektivkoffer zur Schule gingen, vor Unterrichtsbeginn einen überraschenden Putzfimmel an den Tag legten und ausgesuchte Flächen entfetteten, um nach jeder Stunde hektisch Pult und Türklinke mit Graphitpuder abzupinseln und eine Fingerabdruckkartei des Lehrkörpers anzulegen. Ich gehörte zu denen, die ihren Heimweg daraufhin taxierten, wo sich ein geheimer Briefkasten einrichten ließ, ungeachtet dessen, daß man mit den in Frage kommenden Briefpartnern den ganzen Vormittag im selben Raum verbrachte, ich untersuchte Höhlungen in alten Baumstämmen, tastete in Mauerspalten, hob lose Pflastersteine an und legte probeweise leere Zettel ein; dann durchschritt ich die Schleuse ins Elternhaus. Die Naturkorkwand in der Diele neutralisierte meinen kriminalistischen Impetus, sie stufte mich von einem Geheimagenten zurück zu einem Kind, das sich auf das Mittagessen freut. Ich stellte meinen Tornister vor der Kiefernholztruhe ab, warf einen Seitenblick auf die Postkarten mit Sinnsprüchen, die unsere Mutter an den Kork gepinnt hatte, Man sieht nur mit dem Herzen gut, Jedes Kind ist ein Geschenk, Die schönste Sonne ist ein fröhliches Gesicht, ich senkte den Kopf vor dem Messingkreuz, hinter dem ein Palmzweig steckte, der in Wahrheit ein vertrockneter Buchsbaumzweig aus unserem Vorgarten war, in der Kirche gesegnet, das Jahr über unseren Eingang weihend. Hat uns dieser Brauch Segen gebracht?
    Plastik-Quetschdruck-Tapete
    Einmal wöchentlich besuchten wir Tante Sidonia. Wir saßen steif auf der Polstergarnitur. Tante Sidonia eilte zum Wäscheschrank und legte Handtücher über die hohe Rückenlehne des Sofas, damit unser fettiges Haar nicht die Bezüge befleckte.Der Körper ein Ölkännchen? Wir hatten kein fettiges Haar, am Vorabend des Tantenbesuches badeten wir, aber bei Tante Sidonia begannen wir zu triefen und zu tropfen, zu sabbern und zu krümeln, begannen wir wieder zum Baby zu werden, und Tante Sidonia legte uns das Handtuch wie ein rückwärtiges Lätzchen an.
    Ich empörte mich still, denn den Vormittag über war ich nahezu körperlos gewesen, und mir haftete noch der Weihrauchhauch aus dem Meßdienerheim in den Kleidern.
    Mila war das Handtuch gleichgültig, sie lehnte ihren Kopf nicht ans Polster, sie verbrachte die Besuche bei der Tante auf der Sofakante, gerade aufgerichtet, versunken in den graugrünen Bezugsstoff, der von Moosgrün zu Lindgrün zu einem grünlichen Chamois changierte, je nachdem, wie das Licht fiel, wie man ihn strich. Mila war damit beschäftigt, das Sofa mit dem Strich und gegen ihn zu betrachten. Es zu berühren, mit dem Finger darauf zu malen, wagte sie nicht.
    Japanische Grastapete
    Zu Hause durfte Mila auf dem Sofa hüpfen. Sie tänzelte divenhaft um den Wohnzimmertisch, übte kleine Ballettschritte vor den dänischen Weichholzmöbeln und machte Spagat.
    Im Raum stand die Forderung, glücklich zu sein, natürlich zu sein und normal. Wir kamen dieser Forderung klaglos nach, wir waren glückliche Kinder und bewiesen unseren Eltern Tag für Tag, daß unser aller Leben in den Bahnen der Normalität verlief. Wir waren die normalsten Kinder der Siedlung, wir gaben uns Mühe, nicht hervorzustechen, wir waren demonstrativ angepaßt.
    Es sollte uns gut und besser gehen, und es ging uns besser. Wir verhielten uns artig. Uns fehlte nichts. Wir waren zufrieden. Und die Familie war ihrerseits mit uns zufrieden.
    Trotzdem nagte an uns ein Schuldgefühl: Es schien, daß wirdie Forderungen, die an uns gerichtet waren, nie ganz erfüllen konnten. Wir spielten Glück. Ich spielte die Rolle des glücklichen Kindes bravourös. Ich steigerte mich in eine stilisierte Kindheit hinein, ich entwickelte eine regelrechte Leidenschaft der Wohlgeratenheit. Aber ich wäre lieber ein Mädchen gewesen. Und ein Faible für Abweichung wurde zu meinem heimlichen Laster.
    Mila saß auf der Fahrt nach Berlin an den Sicherheitsgurt geklammert, sie sprach nicht mit mir, sie war blaß, unter den Achseln hatte ihre Bluse Schweißflecken, die immer noch wuchsen. Sie saß sehr aufrecht, sie verzog keine Miene, etwas Herrisches ging von ihr aus, das ich an ihr nicht kannte. Hätte sie eine Jacke getragen, die die Achseln verdeckte, ich hätte ihr kaum etwas angemerkt.
    Ich hatte den Klassiksender eingestellt, wir fuhren schweigend zu klassischer Musik, schweigend seit zwei geschlagenen Stunden, aber jetzt drehte ich die Lautstärke auf ein Minimum zurück und betrachtete meine Schwester von der Seite, sie nahm mich

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