Die Sonnenposition (German Edition)
Mechthild Pech war schon bald intelligent genug, ihre Mitschüler nichts mehr merken zu lassen. Sie absolvierte die Schulzeit äußerst unauffällig. Sie wandte sich den passenden Jungen zu, sie lief Marathon, sie verfolgte die Eishockeyturniere. Je älter sie wurde, desto mehr trug ihr Äußeres dazu bei, daß sie gut zurechtkam. Mechthild Pech aus Mecklenburg, dunkelhaarig, drahtig, besaß das strenge Gesicht einer musisch und gärtnerisch interessierten Hausfrau, und niemand hätte ihr ein mathematisches Vermögen zugetraut, das über die vergleichende Addition der Posten auf ihrem Einkaufsbon hinausging.
Sie unternahm lange Wanderungen in Windrichtung und richtete ihr Augenmerk darauf, die eigene Schrittgeschwindigkeit mit dem Tempo der schön dahinziehenden Wolken abzugleichen. Unter dem Deckmantel der Unauffälligkeit studierte sie Meteorologie und Geophysik, und es gelang ihr noch im Studium, die diffusen Konturen, die gleichsam eingedellten Volumina, die unterschiedliche Dichte der Wolkengebilde auf eine Formel zu bringen.
Doch man glaubte ihr nicht. Mechthild Pech hatte geforscht ohne Auftrag. Dies galt, bedeutete man ihr, als Spionage. In diesem Land herrschte eine festgelegte Großwetterlage. Hier dominierte der strahlend blaue Himmel der Paraden: Es gab keine Wolken.
Mechthild Pech entdeckte die Wolkenformel und verbrachte den darauffolgenden Lebensabschnitt in den psychiatrischen Anstalten der DDR, wo sie, wie beabsichtigt, den Verstand verlor. Zuerst veränderte sich ihre Haarfarbe über Nacht von schwarz zu blond. Dann entglitt ihr die Herrschaft über ihre Sprechwerkzeuge, sie artikulierte sich nur mehr wie mit geschwollener Zunge. Solange sie sich widersetzte, die Medikamente nicht einnahm, die Pfleger schlug, behandelte man sie in der Isolierzelle. Dort verblieb sie mehrere Monate und berechnete trotzig die Volumina aller Gespenster, die durch die Wände traten. Sobald sie wieder ein Zimmer mit Fenster bewohnte, saß sie im Stupor an der Scheibe und glaubte, sie könne gefälschte Wolken von echten klar unterscheiden. Später ließ sie sich, schon gebrochen, Jahr um Jahr mit Korbflechten beschäftigen, worüber sie ihre Geistesgaben gänzlich einbüßte.
24 Die Arbeit an Gott
Ich bin davon erwacht, daß Küchengerüche in mein Schlafzimmer ziehen. Sie ziehen auf unerfindlichen Wegen aus der Schloßküche im Keller nach oben, ziehen durch die Ritze unter der Tür, es riecht penetrant nach Zwiebeln und Fett. Rührei zum Frühstück: Ich habe nichts gegen Rührei. Aber ich liege noch im Bett, und die Gerüche, scheint mir, kommen zu früh. Sie füllen das Zimmer an und drängen. Ich hingegen weigere mich, schon aufzustehen, nur weil das Küchenpersonal verfrüht beginnt, verfrüht Signale sendet und dann gezwungen ist, stundenlang die Eierspeise warmzuhalten. Was passiert mit meinem eigenen Geruch, vermischt er sich, verflüchtigt er sich, wird der Körpergeruch vom Rührei hinausgedrängt, wird er, fatal, von diesem ersetzt? Von Anfang an konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich bei unserem Schloß um ein geruchsstarkes Gebäude handelt. Ich kann, sage ich mir, noch froh sein, daß es die Küchengerüche sind, die sich in meinem Zimmer sammeln, nicht die Patientengerüche oder die Toilettengerüche.
Mir ist die Vorstellung unangenehm, daß mein Bettgeruch seinerseits das Zimmer verläßt und sich in irgendeiner Ecke des Gebäudes anstaut, dort eine unerhörte Konzentration erreicht und womöglich andere Personen nötigt, sich damit zu konfrontieren, falls sie ausgerechnet diese Ecke des Gebäudes aufsuchen müssen. Frau Dr. Z., beispielsweise, hat in ihrer Funktion als Chefin an den ausgefallensten Stellen innerhalb dieser Mauern zu tun. Gut möglich, daß sie das Gefühl beschleicht, ich sei in der Nähe oder, schlimmer, sie befände sich quasi in meiner Mitte.
Auf der nächsten Sitzung könnte ich mich mit dem Vorschlag hervortun, eine Dunstabzugshaube anzuschaffen. Doch ist dafür kein Geld da, und es würde nichts ändern.
Seit ich im Schloß wohne, habe ich die prekäre Position inne, mich, ohne etwas dazu zu tun, von meinem Bett aus zu verbreiten, ja ich werde von diesen speziellen Räumlichkeiten, den eigentümlichen Luftwegen, den Durchzügen und dem Übermaß an Ritzen in eine sonnenkönighafte Lage gebracht: einerseits von meinem Zimmer unverhältnismäßig auszustrahlen, andererseits die eigenen Körperfunktionen praktisch öffentlich auszuüben, also abgeschottet,
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