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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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aber ohne Privatsphäre, gravitätisch, aber nur im Bett, während die eigentliche Macht von meinen Ersatzgestalten ausgeht.
    Vorgestern habe ich ein Porträtfoto von mir an die Tür des Behandlungszimmers geklebt. Damit greife ich die unsägliche Sitte auf, die Frau Dr. Z. eingeführt hat: Im Foyer hängen selbstgemalte Bilder der Patienten, es sollen Selbstporträts sein, die dazu dienen, den Besuchern einen ersten Eindruck von den Bewohnern zu verschaffen. Dieser Eindruck kann aufgrund der Qualität der Zeichnungen nur ein haarsträubender sein, aber es gehört zum verspielten Ansatz von Frau Dr. Z., keine normalen Lichtbilder, sondern sogenannte kreative Werke des Selbstausdrucks zu verwenden. Findet ein Besucher zu uns hinaus, muß ihn dieses Foyer voller drachenartiger Gestalten, zerstückelter Körper und fies grinsender Grimassen auf jeden Fall abschrecken. Damit ist es Frau Dr. Z. gelungen, die Figur des dämonischen Türhüters, auf den die Bauherren bei unserem Schloß, einem Lust- und Jagdschloß, verzichtet haben, auf eine besonders abstoßende Weise wieder einzuführen. Indem ich ein eigenes Foto an meine Tür geklebt habe, protestiere ich gegen diesen Unfug, passe mich aber den Erwartungen von Frau Dr. Z. in maßvollem Umfang auch an. Mein Foto ist sehr scharf, ich lächele darauf freundlich und einladend. Durch dasbreite Lächeln sehe ich buddhahaft aus, rundgesichtig, genaugenommen auch etwas kindlich und naiv, aber die Patienten ziehen, wie ich beobachten konnte, vor dem Behandlungszimmer den Kopf ein, ziehen die Schultern hoch, blicken verschämt und betont unauffällig zur Tür, um sich sofort wieder abzuwenden. Gestern sah ich, wie Frau Dr. Z., die dort selten zu tun hat, durch den Gang huschte, fahrig nach dem Rechten sah. Sie erkannte mein Bild, zuckte zusammen, ihre stolze Körperhaltung brach ein, es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder fing. Ich selbst befand mich am anderen Ende des Gangs, ich war im Begriff gewesen, ihr entgegenzukommen, aber dann zog ich es vor, über eine andere Etage auszuweichen.
    Unsere Ergotherapeutin Petra, eine robuste, rotgesichtige Person, die täglich mit dem einzigen Bus hierher und abends wieder zurück pendelt, sprach mich beim Mittagessen an und lobte das Foto. Es sei so zugewandt, meinte sie, vermittele Trost. Allen Ernstes sagte sie Trost. Sie gehe jetzt öfter durch diesen Korridor, fügte sie hinzu, denn das Foto richte sie auf, es gebe ihr Halt. Ich bemühte mich, gewichtig zu nicken, ich verzog keine Miene.
    Beim Nachtisch. Frau Dr. Z. deutete an, ihr gefalle mein Foto, weil es nicht privat wirke. Es sei sehr stilisiert, zwar scheinbar persönlich und damit vertrauenerweckend, in Wirklichkeit aber gerade aus diesem Grund unpersönlich, sie finde es, meiner Position entsprechend, ausreichend neutral. Es komme, gab sie mir zu verstehen, auf das allerneutralste Aussehen an, sie wünsche sich die neutrale Pracht einer Wand, an der die Patienten sich aufrichten. Ich habe nur allzugut verstanden, was sie damit meint: Sofern meine Funktion eine symbolische ist, bin ich austauschbar, durch jeden Beliebigen leicht zu ersetzen.
    Der pikante Geruch hat atemberaubende Dichte erreicht. Er aktiviert den Speichelfluß, aber bedauerlicherweise ist nochlängst nicht Frühstückszeit. Zwischen den Scheiben meines Doppelfensters habe ich, eiserne Ration, ein halbes Glas Apfelmus deponiert. Es paßt zu Reibekuchen, im Fenster bleibt es frisch und hält sich einige Tage. Ich könnte es auch im Korridor in den Kühlschrank stellen. Aber wenn ich nachts aufwache und mich mit einem Löffel Apfelmus beruhigen, stärken, wieder einschläfern möchte, brauche ich mein Zimmer nicht zu verlassen. Das Glas, bauchig inmitten von Glas, schillert wie eine polierte Fruchtschale und kann die Rundheit, Vollkommenheit, Autonomie des Apfels mehr als zufriedenstellend ersetzen.
    Nachteil der Fensterverwahrung: Man sieht es von draußen. Ein angebrochenes Schraubdeckelglas mit graugrünem Mus. Vorteil: Man sieht es von draußen. Apfelmus, golden schimmerndes Kleinod. Handlich steht es im Fenster, ein weitreichendes, ein reichsapfelhaftes Signal.
    Da innerhalb der hierarchischen Struktur unserer Anstalt die vornehmste Übung darin besteht, auch ohne weißen Kittel, rein mittels Haltung die Autorität zu wahren, erliege ich allein aufgrund der Tatsache, daß mitten im Schloß mein Bett steht, einer reputationszerstörenden Peinlichkeit. Die Autorität liegt nicht. Sie liegt niemals. Wer

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